Wieso sollte ich mehr Gefühl zulassen?
Psychologin Sandra Konrad schreibt in ihrer Kolumne über das Leben aus Therapeutensicht. Diesmal: Warum manche Emotionen einfach sein müssen - und auch erwachsene Männer nach "Mama!" rufen dürfen
Georg ist 74, als er von einer Leiter fällt und sich dabei Knochenbrüche an Armen und Beinen zuzieht. „Wissen Sie, was ich gesagt habe, als ich da unten lag und mich nicht mehr bewegen konnte?“ Er schüttelt den Kopf. „,Mama!‘, hab ich gerufen. Ich bin ein alter Mann, meine Mutter ist seit 15 Jahren unter der Erde. Bin ich noch verrückter, als ich dachte?“
Georg ist nicht verrückt, sondern einsam und traurig, seit seine Frau ihn vor zwei Jahren verlassen hat. Weil seine Kinder sich Sorgen machten, hatte er einen ersten Termin bei mir vereinbart – und dann weitere, weil er fand, dass unsere Gespräche „wenigstens nicht schaden“. Georg ist nicht verrückt, weil wir alle in Zeiten größter Not nach denen rufen, die uns am nächsten stehen und von denen wir uns Hilfe und Geborgenheit versprechen. Wir möchten uns wie ein Kind in den Armen unserer Eltern oder Partner verkriechen, Verantwortung abgeben, getragen und beschützt werden.
Ich frage Georg nach seiner Mama, was für eine Beziehung er zu ihr hatte, welche Erinnerungen er an sie hat. Und plötzlich fängt Georg an zu weinen. Er weint, wie er seit seiner Kindheit nicht mehr geweint hat. Er, der gelernt hatte, sich zusammenzureißen und für alle stark zu sein, weint endlich um seine Mama, die er bis heute vermisst. Er weint um seine Frau, um seine Ehe, über seine Einsamkeit. Er weint über die Kränkung, verlassen worden zu sein von den Menschen, die er am meisten liebte und am meisten brauchte. „Das musste wohl mal raus“, sagt Georg trocken, als er sich wieder gefangen hat. Ich nicke. Ich weiß, dass er sich schämt und ich mich als Zeugin seiner vermeintlichen Schwäche auf einem schmalen Grat bewege. Also sage ich genau das, was ich denke und fühle: „Das war das Mutigste und Gesündeste, was Sie bisher bei mir gemacht haben.“
„Sie sind ja total verrückt“, murmelt er, ohne mir in die Augen zu schauen. Dann zückt er seinen Terminkalender und bittet um neue Termine.
Wir alle wollen so gern normal und nicht verrückt sein. Wenn eine Gesellschaft aber sagt, dass Funktionieren richtiger sei als Fühlen, dann haben wir ein Problem. Denn Gefühle zu unterdrücken macht krank – uns selbst und unsere Beziehungen. Das zu erkennen und zu verändern ist schwierig und kann Generationen dauern, aber es ist möglich. Dann wird aus „Indianerherz kennt keinen Schmerz“ schließlich „Indianerherz kennt Freude und Schmerz“, und statt die Zähne zusammenzubeißen, können wir unsere Tränen rauslassen.
Bei unserem nächsten Termin lese ich Georg ein Zitat des Dalai Lama vor: „Ich bin jetzt 71 Jahre alt. Aber ich fühle immer noch, tief in meiner Seele, meine erste Erfahrung, die Fürsorge meiner Mutter. Ich kann sie immer noch spüren. Das schenkt mir sofort inneren Frieden, innere Ruhe.“
„Da bin ich ja in guter Gesellschaft“, sagt er. „In allerbester Gesellschaft“, stimme ich zu. „Sie sind unter fühlenden, liebenden Menschen. Und Sie sind einer davon.“ //
Dr. Sandra Konrad ist Paar- und Familientherapeutin in Hamburg und schreibt in PSYCHOLOGIE bringt dich weiter eine regelmäßige Kolumne. In ihrem dritten Buch "Das beherrschte Geschlecht" (Piper) bezieht die Psychologin klar Stellung: Sie entwirft ein vielschichtiges „Porträt“ der weiblichen Sexualität, wie sie durch die Gesellschaft bestimmt wird und wie das bis heute Gleichberechtigung behindert – durch ein falsches Schönheits- und Sexverständnis, männliche Machtausübung und Frauen, die sich dem unterwerfen.