Wie gelingt Selbstakzeptanz?
Uns selbst vor Augen führen, wer wir sind, mit all unseren angenehmen und weniger angenehmen Seiten, und versuchen, das Beste daraus zu machen: Warum ist das so schwierig? Und was können wir von Menschen lernen, denen es doch gelingt?
Müsste ich das nicht können? Bin ich normal? Mache ich gerade irgendwas Seltsames? Hätte ich das nicht verstehen, wissen oder sehen müssen? Sehe ich komisch aus? Kann ich das wirklich machen? Darf ich so empfinden? Wie sehr wir alle doch unter solchen inneren Dialogen leiden, merkt Psychologin Marjon Bohré in eigenen Fortbildungen (etwa bei Selbstakzeptanz-Expertin Brené Brown), aber auch bei ihrer Arbeit als Coach. "Wirklich jeder ringt mit der Frage, ob er gut genug ist, so, wie er ist - gerade in sensiblen Situationen." Auch Bohré selbst. "Wenn einem meiner Kinder etwas fehlt, werde ich immer ein bisschen panisch und weiß nicht, was ich machen soll. Also wird mein Mann aktiv: Er guckt, was los ist, macht einen Arzttermin, holt Medikamente. Das hat mir lange zu schaffen gemacht, ich habe mich über mich selbst geärgert. Fand, da stimme etwas nicht. Eine gute Mutter weiß, was sie zu tun hat, wenn ihr Kind krank ist! Wenn ein Finger in der Tür eingeklemmt wird, nach einem Sturz die Stirn blutet oder Fieber stark steigt, muss man da sein. Zusammenflicken, organisieren, zur Not reanimieren. Nicht perplex davorstehen. Was ist man bloß für eine Mutter, wenn man in solchen Momenten kein Wort mehr rausbringt?"
All diese inneren Dialoge drehen sich letztlich um die Frage: Kann ich mich so akzeptieren, wie ich bin? Mit all meinen angenehmen und weniger starken Eigenschaften? Mit der Unsicherheit, dem Jähzorn oder der krummen Nase? Studien zeigen: Wer darauf mit "Ja" antworten kann, hat weniger psychische Probleme. Ist weniger anfällig für Depressionen oder Ängste, hat weniger Probleme mit irrationalen Überzeugungen oder einer narzisstischen Neigung, kann sein eigenes Verhalten objektiver sehen und besser mit Kritik umgehen. Selbstakzeptanz steht sogar ganz oben auf der Liste mit Dingen, die zu einem zufriedenen Leben beitragen, entdeckten die Psychologin Karen Pine und ihre Kollegen an der University of Hertfordshire. Aber dieselbe Studie offenbart auch: Wir sind ziemlich schlecht darin. Bei der Frage: "Wie oft sind Sie nett zu sich selbst, und wie oft finden Sie sich völlig in Ordnung, so, wie Sie sind?", wurden die wenigsten Punkte erzielt. Wie kommt das?
#LOVEMYLIFE
"Dass wir uns mit Selbstakzeptanz so schwertun, liegt daran, dass wir so gern von anderen Menschen akzeptiert werden wollen", sagt Psychologin Marjon Bohré. Aber akzeptiert der andere uns auch, wenn er das Gesamtpaket bekommt: die Fröhlichkeit und die Jammerei, die Besonnenheit und die neurotischen Züge? "Wir fürchten, aufgrund unserer weniger schönen Seiten abgelehnt zu werden. Das ist sehr bedrohlich, denn für unser Überleben war stets wichtig, dazuzugehören. Dieses Bedürfnis ist so tief verwurzelt, dass wir die Gefahr, ausgeschlossen zu werden, stets präsent haben."
Also verstecken wir vermeintliche Schwächen lieber und bestrafen uns innerlich dafür: Kannst du nicht einmal mit einem Scherz reagieren, statt gleich wieder so ernst zu sein? Musst du ständig den Moralapostel raushängen lassen? Mit 40 müsstest du doch allmählich entspannt vor einer Gruppe reden können? Noch schwieriger wird es dadurch, dass wir in den sozialen Medien ständig sehen, wie "großartig" andere sind und dass sie ihr Leben offensichtlich sehr wohl auf die Reihe kriegen.
Die westliche Kultur fördert das Verstecken und die inneren Dialoge noch: In unserer Gesellschaft wird man vor allem akzeptiert, wenn man ordentlich auf einem Stuhl sitzen, ein Unternehmen zum Blühen bringen oder problemlos Kontakte schließen kann. Man darf sich auch mal einen Schnitzer erlauben – aber vor allem dann, wenn man anschließend bei einer Fuck-up-Night eloquent davon erzählen kann.
Unsere Erziehung kann die Neigung, sich selbst nicht als der zu akzeptieren, der man ist, noch verstärken, behauptete der bekannte humanistische Psychologe Carl Rogers schon vor Jahrzehnten. Werden Sie bedingungslos geliebt? Oder haben Sie das Gefühl, vor allem dann Aufmerksamkeit, Umarmungen und Komplimente zu bekommen, wenn Sie gute Noten kriegen, hilfsbereit sind, Ihr Familienleben gut organisieren oder eine – in den Augen Ihrer Eltern – tolle Karriere eingeschlagen haben? Erlebt ein Kind, dass die Liebe, die ihm widerfährt, davon abhängt, wie viele Erwartungen es erfüllt, ist es wahrscheinlicher, dass es auch sich selbst in „Wert“-Begriffen beurteilt, sagt Rogers. Und ein solches Kind neigt dazu, sich nur dann zu akzeptieren, wenn es "seine Sache gut macht".
MEHR MENSCHLICHKEIT
Aber, nun ja, die Hälfte der Zeit machen wir "unsere Sache" eben nicht so gut. Dann liegen wir mitten in der Nacht wach, riskieren unsere Beziehung, haben Angst, sind wütend, chaotisch, sagen etwas Dummes. Wer lernt, mit sich selbst nachsichtiger zu sein, wer einsieht, dass niemand perfekt ist, und wer sich selbst mit all seinen Unleidlichkeiten akzeptiert, kann sich gegenüber anderen auch leichter so geben, wie er ist. So zeigen wir Menschlichkeit – und oft stellt sich heraus, dass andere gar nicht wegrennen, sondern im Gegenteil, näher rücken und uns wissen lassen: "He, das habe ich auch!" Hören Sie also auf, sich ständig selbst zu "reparieren", um dem zu entsprechen, wie Sie laut sich selbst oder anderer zu sein haben. "Weil man sich selbst akzeptiert, akzeptiert einen die ganze Welt", meinte schon der chinesische Philosoph Laotse.
Und danach brauchen wir nichts mehr an uns zu ändern? Können wir dann sagen: So bin ich, nimm es so hin? Nein, sagen Selbstakzeptanz-Experten: Sich selbst so anzunehmen, wie man ist, bedeutet nicht, dass man jeglicher Verantwortung für sich selbst oder andere enthoben wird. Bohré: "Sie können sich selbst lieben, mit allem, worin Sie nicht so gut sind, und trotzdem noch überlegen, wie Sie wachsen können und mit den Dingen umgehen, die noch nicht so gut laufen."
Vor allem die Intention sei wichtig: "Möchten Sie sich verändern, weil Sie glauben, noch perfekter sein zu müssen, weil andere über Sie oder Sie selbst über sich urteilen? Oder entsteht der Wunsch nach Veränderung aus dem, was Ihnen im Leben wichtig ist? Also: Wollen Sie Ihre Ungeduld loswerden, weil alle um Sie herum so geduldig wirken und Sie meinen, eigentlich auch ein bisschen mehr Zen an den Tag legen zu müssen? Oder ist Ihnen Zusammenarbeit wichtig, und möchten Sie aus diesem Grund lernen, Kollegen öfter mehr Raum zu geben? Wer sich aus der letzteren Überzeugung heraus entwickelt, kann sein eigenes Leben und das der anderen weiter bereichern."
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