"Plötzlich war mein Vater nicht mehr da"
Vor fünf Jahren nahm sich Julias (30) Vater das Leben. Wie lebt man weiter, wenn nichts mehr ist, wie es mal war?
Um vier Uhr morgens standen plötzlich meine Mutter, mein Bruder und mein Freund vor mir. Ich arbeitete damals als Studentin in einem Club, nahm Jacken an der Garderobe entgegen. Beim Anblick meiner Familie neben den tanzenden Leuten wusste ich sofort: Da ist etwas passiert. Vier Wochen zuvor hatten die Ärzte bei meinem Papa Krebs entdeckt, ein unheilbares Kieferkarzinom. "Ist etwas mit meinem Vater?", fragte ich meinen Freund. Er nickte. "Ist er gestorben?" Er nickte wieder. Ich hörte noch "Selbstmord" und "Badewanne", bevor mir jemand den Boden unter den Füßen wegzog. Als wir heimfuhren, war mein Kopf wie in Watte gepackt. Stimmen, Geräusche – alles drang nur gedämpft zu mir durch. Hatte es Hinweise gegeben? Mittags war er noch bei mir gewesen. Er wollte mich unbedingt sehen, obwohl ich erkältet war. Als er zur Verabschiedung den Arm um mich legte, wendete ich mich ab – aus Angst, ihn anzustecken. Hätte ich gewusst, dass es ein Abschied für immer sein würde ...
Meine Mutter hatte seine Leiche nach dem Einkaufen gefunden. Als wir nach Hause kamen, war die Kripo schon weg. Vor dem Bad klebte noch schwarz-gelbes Absperrband. "Ich möchte es sehen, sonst glaube ich es nicht", bat ich Mama – ein Satz, den ich noch oft sagen sollte. Sein Körper lag schon in der Gerichtsmedizin, aber die Badewanne war noch voller Blut, der Boden übersät mit Glasscherben. Wie konnte er sich, wie konnte er uns das antun? Uns diese Bilder im Kopf hinterlassen? Mich alleine lassen? Wieso hatte er nicht gegen den Krebs gekämpft? Ich war geschockt. Unendlich traurig. Und vor allem: wütend. Weinen konnte ich nicht. Noch nicht.
Stattdessen putzte ich mit meiner Mutter das Bad. Das Blut meines Vaters wegzuschrubben war für mich das Schlimmste. Obwohl sein Selbstmord damit offensichtlich war, ging mir immer wieder durch den Kopf: "Das hat er doch nicht wirklich gemacht!" Ich brauchte mehr "Beweise" – daher fuhr ich, sobald seine Leiche am nächsten Tag freigegeben worden war, zum Bestatter. Das klingt vielleicht verstörend, aber ich nahm seinen Arm aus dem schwarzen Plastiksack und betrachtete sein Handgelenk. Ich musste die Wunde sehen, mich damit konfrontieren. Bei der Polizei schaute ich mir auch die Bilder vom Tatort an. Kleine Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Schockierend, für sich betrachtet. Und doch halfen sie mir, loszulassen, alles zu verarbeiten.
Nach der Beerdigung konnte ich endlich weinen. Ein halbes Jahr lang weinte ich eigentlich nur. Meistens schlief ich bis nachmittags, manchmal schaffte ich es zur Uni, manchmal zum Supermarkt. Zehn Kilo nahm ich in der Zeit ab. Und ich zog um, denn in meiner alten Wohnung dachte ich ständig: "Da hat er gesessen." Oder: "Da habe ich mit ihm dieses oder jenes besprochen." Jede Ecke, jeder Platz eine Erinnerung. Am schlimmsten war es da- heim bei meiner Mutter. Stets war da dieses Gefühl: Gleich tritt er durch die Tür und ruft "Juli-Mädelchen" – das tat so weh, ich konnte einfach nicht dort sein. Zumal sie alles gelassen hat, wie es war. Sogar das Badezimmer.
Meiner Mutter ging es nach dem Tod meines Vaters zunächst scheinbar gut – sie verdrängte es und reiste viel. Für mich war das unvorstellbar. Ich wollte reden, es verarbeiten. Mit Freunden darüber zu sprechen fand ich schwierig. Niemand von ihnen hatte einen Elternteil verloren, niemand von ihnen konnte nachfühlen, was ich empfand. Zumal Papas grausamer Tod nichts ist, was man einfach beim Kaffeetrinken erzählt. Also suchte ich mir einen Therapeuten und besuchte eine Selbsthilfegruppe mit Gleichgesinnten. Das half mir sehr. Endlich hatte ich das Gefühl, offen sprechen zu können, ohne jemanden zu schockieren. Und verstanden zu werden.
Auch mit meinem Vater redete ich viel – innerlich und an seinem Grab. Anfangs machte ich ihm Vorwürfe: Wie konntest du uns das antun? Für mich als Kind war es schwer nachzuvollziehen: Warum lässt mich mein Papi alleine? Später erzählte ich ihm, was mir gerade wichtig war. Dass ich zum Beispiel meinen Uni-Abschluss mit 1,3 bestanden hatte. Dass ich ihm meine Magisterarbeit widmete. Er war Lehrer und legte viel Wert auf Bildung. Es macht mich immer noch traurig, dass er meine Arbeit nie lesen wird. Er wäre sicher stolz darauf gewesen.
Heute kann ich im Ansatz verstehen, dass er sein Leiden verkürzen wollte – auch wenn ich mit der Art und Weise, wie er es tat, nach wie vor hadere. Mein Vater war schon zehn Jahre zuvor an Leukämie erkrankt. Damals half ihm eine Chemotherapie, aber er sagte immer, das mache er nicht noch einmal durch. Er wollte kein Pflegefall werden, hatte Angst vor den Schmerzen, davor, entstellt zu sein. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, er sehe keinen anderen Ausweg, da es in Deutschland noch keine aktive Sterbehilfe gebe. Trotzdem hätte ich mir einen anderen Weg für ihn gewünscht. Und für uns.
Für mich als Kind war es schwer zu verstehen: Warum lässt Papi mich allein?
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In manchen Situationen fehlt er mir besonders. Etwa wenn in einem Film der Vater die Braut zum Altar führt. Wenn ich meinem neuen Freund von ihm erzähle – und er für ihn doch immer ein Unbekannter sein wird. Wenn ich et- was geschafft habe. Oder seinen Rat bräuchte. Sein Tod wird immer ein großes Thema für mich bleiben, egal wie viel Zeit vergeht.
Früher war ich viel unbeschwerter und strahlte diese "Alles wird gut"-Zuversicht aus. Jetzt beschleicht mich oft die Angst, noch jemanden zu verlieren. Zugleich bin ich empathischer geworden. Selbst Katastrophen oder Schicksale von Menschen, die mich nicht direkt betreffen, be- schäftigen und berühren mich viel mehr. Aber ich blicke wieder nach vorn. Er ist nicht mehr mein Hauptthema.
In seinem Abschiedsbrief schrieb er: "Juli-Mädelchen, Du wirst Deinen Weg schon gehen." Den Wunsch werde ich ihm erfüllen. Und mir.
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Julias Geschichte ist in Ausgabe 4/2017 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das komplette Heft können Sie im Shop nachbestellen.