"Mein Vater hat unsere Tochter missbraucht"
Hanna (55) fand heraus, dass ihre Tochter missbraucht wird – von Hannas Vater. Wie lebt man weiter, wenn nichts mehr ist, wie es war?
Meine Tochter war 14, als ich das Gefühl hatte, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Sie wurde immer stiller, weniger spontan. Und lief im Fernsehen etwas mit Sex, verschloss sie sich völlig. Ich machte mir wirklich Sorgen. Einmal fragte ich sie direkt: "Wirst du missbraucht?" Sie reagierte sehr heftig: "Quatsch, natürlich nicht!" Trotzdem wurde ich das ungute Gefühl nicht los. Eines Tages rief man mich auf der Arbeit an. Es war der Vertrauensarzt der Schule, ich sollte sofort kommen. Mir war gleich klar, dass es etwas Ernstes war, aber seltsamerweise dachte ich nicht gleich an Missbrauch, sondern eher an Drogen oder so etwas … Ich stieg auf meinen Roller und fuhr los. An der Schule stand schon das Auto meines Ex-Mannes. Der Vertrauensarzt fiel gleich mit der Tür ins Haus: "Ich glaube, Ihre Tochter wird sexuell missbraucht." Es fühlte sich an wie eine Ohrfeige. "Dürfte ich auch erfahren, von wem?", fragte ich. "Von Ihrem Vater." Eine enorme Wut stieg in mir auf, und ich sagte: "Ich will auf der Stelle meine Tochter sehen." Als sie in den kleinen Raum kam, nahm ich sie sofort in den Arm und sagte: "Was immer auch passiert ist, es ist nicht deine Schuld." Diesen Satz wiederholte ich wieder und wieder.
Er wirkte wie der perfekte Opa
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Noch am selben Nachmittag fuhren meine Tochter, meine Schwester und ich zu meinen Eltern. Mein Vater öffnete die Tür. Ich sehe ihn noch vor mir, mit hängenden Schultern: "Ich habe es getan, hack mir ruhig die Hand ab." Am liebsten hätte ich ihm wirklich etwas angetan, aber meine Tochter war dabei – ich dachte in dem Moment vor allem an sie. Meine Mutter, wütend auf ihren Mann, nahm ihre Enkelin sofort in den Arm. Ein paar Wochen zuvor hätte sie ihn noch gefragt, was er denn immer mit seiner Enkeltochter wolle, erzählte meine Mutter. Beide hatten wie die perfekten Großeltern gewirkt, mit Kinderfesten und gemütlichen Übernachtungsbesuchen. Aber wahrscheinlich hatte der Missbrauch schon begonnen, als meine Tochter sechs Jahre alt war.
Meine Mutter warf meinen Vater sofort aus dem Haus. Als er jedoch ein halbes Jahr später an Krebs erkrankte, nahm sie ihn zurück und schlug sich plötzlich auf seine Seite. Als sie – wie er – behauptete, meine Tochter "hat es sicherlich provoziert", brach ich den Kontakt ab – das war einfach zu viel.
Erst drei Jahre nach dem Anruf des Schularztes erstattete meine Tochter Anzeige, zuvor war sie dazu nicht in der Lage. Sie machte das ganz allein, was mich sehr beeindruckt hat. Die Sache ging vor Gericht, mein Vater gestand erneut, aber Reue war ihm nicht anzumerken. Sie habe sich auf seinen Schoß gesetzt, sagte er, klar hätte er sich da nicht beherrschen können. Das machte mich wieder rasend. Wäre ich ihm in diesem Moment auf der Straße begegnet, ich hätte ihn eiskalt überfahren. Mein Verhältnis zu meinem Vater war nie richtig gut gewesen. Aber seit dem Missbrauch habe ich keine Gefühle mehr für ihn. Mein Vater wurde in erster Instanz zu 18 Monaten verurteilt, sechs davon auf Bewährung. Zu meinem Erstaunen legte er Berufung ein. In dieser Zeit hatten wir ein gutes Gespräch mit dem Untersuchungsrichter, einem väterlichen Typ. Meine Tochter war sehr unsicher. "Wer will mich denn noch haben?", fragte sie ihn. Er schaffte es, sie zu beruhigen. Es war schön zu sehen, dass jemand so engagiert ist. Als mein Vater in Berufung zu zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt wurde, war das ein Triumph.
Wir haben sehr lange nach einem guten Therapeuten für meine Tochter gesucht. Schließlich fanden wir am anderen Ende des Landes jemanden, bei dem sie sich wohlfühlte, mit dem sie sich verstand. Dort traute sie sich zum ersten Mal, ausführlich darüber zu reden. Erst als ich merkte, dass es ihr besser ging, vor zwei Jahren, gönnte ich mir selbst therapeutische Hilfe. Jahrelang hatte ich Träume, in denen ich mit meinem Vater kämpfte, und danach weinend aufwachte. Ich sprach mit einem Psychotherapeuten, bekam EMDR-Therapie. Nach und nach gingen wir alles an: den Missbrauch, meinen Vater, der nicht mehr mein Vater war, meine Mutter, die mich fallen gelassen hatte. Mein Therapeut gab mir das Gefühl zurück, dass ich sein darf – eine Grundsicherheit. Inzwischen habe ich alles verarbeitet, kann leichter darüber sprechen. Und wache fast nie mehr weinend auf.
Zu meinen Eltern habe ich keinen Kontakt mehr. Zum Glück begegne ich ihnen nie zufällig. Neulich hat meine Mutter mir einen Brief geschickt. Sie wolle wissen, wie es mir gehe, schrieb sie. Ich antwortete per E-Mail, dass ich keinen Kontakt mehr möchte. Aus Selbstschutz: Ich will nicht noch mehr verletzt werden. Geht es meiner Tochter mal wieder nicht gut, trifft mich das noch sehr. Sie ist jetzt 28, und die Erinnerungen an die Ereignisse überfallen sie immer mal wieder. Dann ruft sie mich an, ist völlig außer sich. Das nimmt mich sehr mit. Generell habe ich gelernt, damit umzugehen. Den Missbrauch meiner Tochter aber trage ich als Teil meines Lebens mit mir. Er hat mich härter gemacht, und ich vertraue nicht mehr allen, die auf den ersten Blick nett wirken. Ansonsten richte ich mich auf das Positive im Leben, und das klappt gut. Jedes Jahr fahren meine Tochter und ich zusammen ein Wochenende weg. Manchmal reden wir dann über die Vergangenheit. Ich kann noch sehr emotional werden, aber es wirft mich nicht mehr so aus der Bahn. Zu zweit gelingt es uns, recht nüchtern darüber zu sprechen. Ein solches Wochenende zeigt mir, wie gut die Beziehung ist, die wir zum Glück noch immer haben.
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Hannas Geschichte ist in Ausgabe 5/2017 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das komplette Heft können Sie im Shop nachbestellen.