"Mein Vater hat meine Mutter getötet"
Vor sechs Jahren ermordete der Vater von Tamara (31) ihre Mutter – einen Tag vor der Geburt seines Enkels. Wie macht man weiter, wenn nichts mehr ist, wie es mal war?
Es lief schon eine ganze Weile nicht mehr so gut zwischen meinen Eltern. Sechs Wochen vor ihrem Tod erzählte mir meine Mutter, dass mein Papa nicht mein biologischer Vater sei. Mein Bruder und ich sind beide durch Samenspenden gezeugt worden. Mit einem Mal verstand ich so manches besser, beispielsweise warum ich so wenig von meinem Vater in mir wiederfand. Am gleichen Tag zeigte sie mir auch ihre Kontoauszüge, auf denen deutlich zu sehen war, dass mein Vater an einem Tag ganz viele kleine Abhebungen hintereinander getätigt hatte. Sie hatte herausgefunden, dass er seit Jahren spielsüchtig war.
Das war wohl einer der Gründe, weswegen sie sich von ihm scheiden lassen wollte. Es war ein Mittwoch im Mai, morgens hatte ich einen Termin beim Gynäkologen. Ich war in der 41. Woche, und wir vereinbarten, dass die Geburt am nächsten Tag eingeleitet werden würde. Wegen der Spannungen zwischen meinen Eltern hatten meine Mutter und mein Bruder in der letzten Zeit woanders übernachtet, aber an diesem Tag wollten sie wieder nach Hause. Um halb zwölf rief ich meinen Vater an und erzählte vom Geburtstermin am nächsten Tag. "Lass dir Zeit, alles Gute", sagte er noch.
Eine Stunde später klingelte das Telefon. An der Melodie erkannte ich, dass der Anruf aus meinem Elternhaus kam. Wir saßen im Garten, mein Mann Tobias nahm ab. Plötzlich begann er zu schreien: "Tu das nicht! Jetzt beruhige dich!" Es war mein Vater, der sagte, er hätte meine Mutter ermordet und würde nun auch sich selbst töten. Trotzdem blieb ich ganz ruhig, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er das wirklich getan haben sollte. Erst auf der Polizeiwache erfuhr ich, dass es wahr war. Es zog mir den Boden unter den Füßen weg. Die Polizisten meinten, ich müsse es meinem zwölfjährigen Bruder sagen, aber der wusste längst Bescheid – mein Vater hatte es vor seinen Augen getan. 20 Messerstiche.
In dieser Nacht fühlte sich mein Bauch ganz seltsam an, und es ging mir gar nicht gut. Schließlich fuhren wir doch ins Krankenhaus, weil ich mir Sorgen um das Baby machte. Ich kam an den Wehentropf, um die Geburt einzuleiten, und nachmittags um vier wurde Sven geboren. In einem solchen Moment merkt man, wie einen eine Art Urkraft überkommt und man einfach tut, was gerade nötig ist. Ich war intensiv mit dem Baby beschäftigt; Tobias aber bekam die ganze Zeit Anrufe und SMS zum Tod meiner Mutter. Ich blieb eine Nacht im Krankenhaus – meine kleine Flucht aus der Situation. Allein im Krankenzimmer wurde mir plötzlich klar, dass ich meine Mutter nicht anrufen konnte. Da habe ich zum ersten Mal wirklich geweint. Nicht stundenlang, der Kummer überrollte mich eher in Wellen.
Fünf Tage später durfte ich zu meiner Mutter. Man hatte sie im Universitätskrankenhaus aufgebahrt, zum Glück war nicht so viel von ihren Verwundungen zu sehen. Ich ging hinein, Sven auf dem Arm. Er begann sofort zu weinen. Erst als ich sah, dass sich meine Mutter wirklich nicht mehr bewegte, begriff ich es. Es traf mich wie ein Fausthieb. Das hier war real. Meine Mutter war tot. Unbewusst hatte ich wohl doch erwartet, sie würde auf das Weinen ihres Enkels reagieren. Es war sehr konfrontierend, dass das nicht geschah. Mein Vater hatte sich selbst mit sieben Messerstichen verwundet. Nach etwa fünf Wochen starb er im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Ich habe nicht mehr mit ihm reden können, aber ich glaube, ich verstehe zumindest zum Teil, warum er das getan hat. Als meine Mutter beschloss, ihn zu verlassen, brach für ihn eine Welt zusammen. Er war ohne Job, hatte keine engen Freunde. Meine Mutter war alles für ihn, seine Sicherheit, sein Einkommen, sein soziales Netzwerk...
Er wusste nicht, dass Mama mir erzählt hatte, dass er nicht unser leiblicher Vater war. Trotzdem hatte er vielleicht unterbewusst Angst, wir würden uns nach der Trennung für sie entscheiden. Seine Verzweiflung und seine Panik kann ich ja nachvollziehen, aber warum hat er dann nicht nur sich selbst etwas angetan? Das kann ich ihm einfach nicht verzeihen. Tobias, meine Verwandten und Freunde haben mich in den ersten Monaten sehr unterstützt. Ich habe geredet und geredet und die Geschichte bestimmt tausendmal erzählt. Zugleich wunderte ich mich, welche Kraft anscheinend in mir steckte. Trotzdem, nach anderthalb Jahren habe ich gemerkt, dass ich mich in meiner Haut noch immer unwohl fühlte. Immer wieder hatte ich Bilder im Kopf von meinem Vater mit dem Messer – auch wenn ich das selbst natürlich gar nicht erlebt habe.
Ein Psychologe schlug vor, mich einer Traumatherapie zu unterziehen. Der EMDR-Therapeut fragte mich nach den Dingen, die ich noch nicht verarbeitet hatte. Ich sollte mir alles, was passiert war, genau vorstellen, mit all den schrecklichen Gefühlen, die dazugehörten. Während ich das tat, schickte er mir kurze Pieptöne aufs Ohr. Schon bei der zweiten Piepton-Serie wurden die Emotionen schwächer, und anderthalb Stunden später war ich ein anderer Mensch. Vor allem Tobias bemerkte sofort den Unterschied, er meinte, ich wirkte deutlich entspannter. Ich selbst fühlte mich, als hätte ich den ganzen Tag geweint. Seither habe ich diese ganz intensiven Emotionen nicht mehr, und auch die Ängste sind weg. Nur das Gefühl des Verlusts bleibt – und auch daran gewöhnt man sich. Ich bin viel ruhiger, muss die Geschichte nicht mehr jedem erzählen. Schließlich verliert jeder irgendwann seine Eltern, man will natürlich bloß nicht, dass es auf diese Weise geschieht.
Da ist eine Art Leere hinter mir, ich kann auf niemanden zurückgreifen.
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Ich habe innerhalb von wenigen Tagen beide Elternteile verloren – und wurde selbst Mutter. Dadurch bin ich urplötzlich eine Generation vorgerückt. Manchmal habe ich das Gefühl, ich kann auf niemanden mehr zurückgreifen. Da ist eine Art Leere hinter mir.
Ob es mich als Person verändert hat, weiß ich nicht so genau. Vielleicht bin ich in der Tat schlagartig erwachsen geworden. In einem solchen Augenblick wird einem klar, wie stark man eigentlich ist. Man lernt zu schätzen, was man alles hat. Zum Grab meiner Mutter gehe ich nur noch selten. Meinen Kindern erzähle ich, wie lieb sie war. Sie ist immer noch bei mir, in Form schöner Gedanken und Erinnerungen. Die Art, wie sie gestorben ist, belastet mich nicht mehr.
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Tamaras Geschichte ist in Ausgabe 3/2016 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das komplette Heft können Sie im Shop nachbestellen.