"Mein Bruder ist ohne ein Wort verschwunden"
Der Bruder von Corrie (69) verschwand, als er 20 war. Auch 44 Jahre später weiß sie noch nicht, wieso. Wie lebt man weiter, wenn plötzlich nichts mehr ist, wie es mal war?
Eines Morgens fanden meine Eltern eine Postkarte im Briefkasten. Darauf zwei Sätze: "Hiermit teile ich Euch mit, dass ich aus dem 'normalen' Leben verschwunden bin. Bitte versucht nicht, mich zu finden." Darunter ein Herzchen und der Name des Absenders: Alwin. Mein Bruder war damals 20 Jahre alt. Seit dieser Karte, vor nun 44 Jahren, haben wir nie wieder etwas von ihm gehört. Erst dachte ich, er käme bestimmt bald wieder, später ging ich davon aus, dass er untergetaucht war. Irgendwann, glaubten wir, würde ihn sowieso die Militärpolizei aufgreifen: Er hatte sich stets geweigert, sich mustern zu lassen, und sich stark in einer Stiftung gegen Gewalt engagiert. Alwin war immer schon ein Junge, der sein Ding machte. Mit 15 wurde er immer rebellischer, stellte den Lehrern kritische Fragen und drehte sich weg, wenn mein Vater das Tischgebet sprach. Die Schule verließ er schließlich ohne Abschluss, im Glauben, dass die Welt davon nicht besser werde, wenn er Formeln und Grammatik lernte.
"Was macht er denn jetzt? Wie gemein!", ging mir durch den Kopf, als ich seine Karte fand. Ich konnte es kaum glauben und dachte vor allem daran, wie schlimm es für meine Eltern war. Erst nach Tagen ließ ich den Gedanken zu: Alwin war weg. Ich war total aufgelöst und verstand nicht, wie wir einfach weiterleben konnten, während er verschwunden blieb. Wir haben uns immer gut verstanden, spielten früher viel zusammen und redeten oft miteinander. Ich erinnere mich noch an unser letztes langes Gespräch, ein paar Wochen vor seinem Verschwinden. Ich lag auf meinem Bett, er saß auf dem Boden daneben. Bis tief in die Nacht sprachen wir über alles, was ihn beschäftigte. Über die Entscheidungen, vor denen er stand, den Wehrdienst, dem er entgehen wollte. Am Ende bekam ich noch einen Kuss von ihm. Eine schöne Erinnerung, aber mir kommen dabei immer die Tränen. Ich denke, dass er sehr mit sich gehadert hat. Auch nach Wochen: kein Lebenszeichen von Alwin. Erst da begann ich zu begreifen, dass er wirklich verschwunden war. Vielleicht war er irgendwo in einem fernen Land, oder er hatte seinem Leben ein Ende gesetzt, dachte ich. War der Druck, den wir auf ihn ausgeübt hatten, zu groß gewesen? Gerade meine Eltern hatten ihn regelmäßig ermahnt, an seine Zukunft zu denken.
Sie schämten sich sehr dafür, dass ihr Sohn einfach abgehauen war. Kam Besuch, sagten sie, Alwin sei in der Stadt. Aber ich merkte, dass sie sich schuldig fühlten. Erst als das Militär nicht mehr nach ihm fahndete, brachen meine Eltern ihr Schweigen und fingen an, mithilfe der Medien und der Polizei aktiv zu suchen. Ich sah, wie verzweifelt sie waren, und sie taten mir leid. Meinem eigenen Kummer gab ich kaum Raum. Aber ich war antriebslos geworden, an manchen Tagen kostete es mich viel Mühe, aus dem Bett zu kommen, und ich tat nur das Nötigste. Am liebsten blieb ich dann zu Hause, mit zugezogenen Vorhängen. Irgendwann wurde aus meiner Niedergeschlagenheit Wut. Ich fand es so asozial, dass Alwin nichts von sich hören ließ! Ich begann eine Therapie, dort schlug ich manchmal fest auf ein Kissen ein, so als würde ich ihn schlagen. Das half, ich wurde innerlich und äußerlich ruhiger. Aber es gab noch immer Momente, in denen ich glaubte, ihn auf der Straße zu sehen. Dann lief ich sofort hinter ihm her. Und war wie paralysiert, wenn sich herausstellte, dass es doch jemand anderes war.
Knapp 15 Jahre nach Alwins Verschwinden ging ich zum ersten Mal zu einem Hinterbliebenen-Treffen. Den Kummer der anderen zu erleben half mir, auch meine eigene Trauer zu spüren. Die Polizei riet uns, einen Verein für Angehörige von Vermissten zu gründen. Das machten wir, und ich habe mich lange dafür engagiert. Ich konnte so sehr oft meine Geschichte erzählen, und das tat mir gut.
Unser letztes Gespräch erinnere ich noch. Er hat sehr mit sich gehadert.
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Vor drei Jahren verschwand Alwins Akte vorübergehend, was uns einen ordentlichen Schrecken einjagte. Aber dann nahm die Polizei zum Glück den Faden wieder auf, und ich bekam hin und wieder Mails zu nicht identifizierten Leichnamen. Aber irgendwann merkte ich, ich will das nicht mehr: Ich hatte genug getan, wollte mich lieber wieder anderen Dingen widmen. Meine Schwestern sind nun mit der Polizei in Kontakt. Wir halten jetzt auch für möglich, dass Alwin in einer depressiven Anwandlung ins Meer gegangen ist. Sollte er ertrunken sein, hat die Strömung ihn vermutlich an die Küste einer Nordseeinsel gespült. Wir hoffen, dass deren Bürgermeister zustimmt, Gräber unbekannter Toter zu öffnen. Vielleicht wird Alwin dann endlich gefunden.
Ja, ich hoffe noch immer. Und habe mich doch irgendwie mit der Situation abgefunden. Nichts im Leben ist sicher, das hat mir Alwins Verschwinden bewusst gemacht. Trotzdem gebe ich mein Bestes, mich wieder vom Strom des Lebens treiben zu lassen. Jahrelang habe ich mich schuldig gefühlt: Hätte ich etwas tun oder sagen können, das verhindert hätte, dass er verschwindet? Aber ich weiß jetzt, ich bin nicht perfekt und es war nicht meine Schuld. Alwin bleibt mein lieber, kluger, besonderer Bruder, und es ist, wie es ist.
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Corries Geschichte ist in Ausgabe 4/2016 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das komplette Heft können Sie im Shop nachbestellen.