Mehr Mut!
Die Überwindung Ihrer Ängste ist vor allem eine Frage der Ausdauer, weiß die Angst-Expertin und Autorin Roanne van Voorst. Also: Nicht aufgeben, sondern immer wieder probieren!
Mein Mann schaute mich besorgt an: "Bist du dir sicher?" Wir waren auf einem gemeinsamen Roadtrip in den Vereinigten Staaten. Die offenen Fenster unseres Wohnmobils bliesen heiße, trockene Luft ins Innere, der Radiosender fing nur Rauschen ein. Plötzlich türmten sie sich vor uns auf: hohe, massive, rot glühende Felsen. "Da will ich hin", hatte ich gerufen – und mich an die lyrische Beschreibung eines berühmten Fußweges aus dem Reiseführer erinnert. Mein Mann zögerte einen Moment, bevor er die entsprechende Abzweigung nahm.
Seine Zweifel waren verständlich. Er hatte den Reiseführer auch gelesen – und darin stand, wie schmal der Wanderpfad war und dass die Felsen zu beiden Seiten steil und rutschig in die Tiefe führten. Leuten mit Höhenangst wurde von der Wanderung daher dringend abgeraten – und Höhenangst war mein großes Problem. Mein Mann kannte die alte Geschichte, als mich ein Ex-Freund zu einem romantischen Date in eine Kletterhalle mitnahm. Wahrlich kein Erfolg! In zehn Metern Höhe, sicher an einem Seil hängend, fing ich an zu hyperventilieren und zu zittern, mir wurde übel. Ich konnte gerade noch schnell genug nach unten klettern und zur Toilette rennen, um mich zu übergeben.
Schwarz vor Augen
Mein Mann wusste auch, dass ich seither versuchte, meine Höhenangst zu besiegen, und dabei seit Jahren keine großen Fortschritte verbuchen konnte – das erzählte ich ihm jede Woche nach einer weiteren Kletterpartie. Zwar war die Liebe zu dem damaligen Freund nicht lange nach besagtem Katastrophentag erloschen, die Liebe zum Klettern jedoch war merkwürdigerweise durch diesen ersten, schwierigen Versuch in mir erwacht. Ja, ich fand das Klettern extrem schrecklich, aber irgendetwas an diesem Sport übte trotzdem eine unwiderstehliche Faszination auf mich aus. Die Kombination aus Kraft und Balance, die man braucht, um raufzuklettern, die nette Atmosphäre in der Kletterhalle und – zugegeben – der attraktive Kletterer, den ich dort kennengelernt hatte und der später mein Mann werden sollte. Also meldete ich mich für einen Kletter-Anfängerkurs an. Zudem machte ich alle Übungen, von denen ich gelesen oder gehört hatte, dass sie mir helfen könnten, mich an Höhen zu gewöhnen. Atemübungen, Visualisierungen, versuchen, mich auf einer Höhe aufzuhalten, ohne plötzlich zu viel von mir zu verlangen. Ich wusste genau, was mir der Wissenschaft zufolge helfen könnte, war aber nicht davon überzeugt, dass es bei mir funktionieren würde. Vielleicht bin ich einfach ein zu schwerer Fall, dachte ich mehr als einmal.
In der Kletterhalle war ich nicht die Einzige mit Höhenangst, aber niemanden dort hatte es so schlimm erwischt wie mich. Regelmäßig musste ich auf halber Strecke aufgeben, weil mir schwarz vor Augen wurde. Dann zitterten meine Knie unkontrolliert, mein Mund wurde trocken, meine Hände feucht. Nicht gerade praktisch, wenn man mit aller Kraft versucht, sich an winzigen Griffen festzuhalten. Damals dachte ich oft frustriert an eine Werbung für Bungee-Jumping zurück, die ich mal in einer Zeitschrift gesehen hatte. "Das beste Gefühl der Welt? Überwinde deine Angst" lautete der Spruch. Auf dem Foto daneben waren Leute abgebildet, die über das ganze Gesicht lachten, offensichtlich euphorisch, nachdem sie gerade diesen beängstigenden Sprung in die Tiefe gewagt hatten. Aber ich fand es gar nicht lustig, Angst zu überwinden. Nach sechs Monaten regelmäßigen Kletterns wurde mir nicht mehr übel, aber noch immer kämpfte ich mit den Tränen – nicht immer mit Erfolg.
Plötzlich Angekommen
"Wir müssen echt nicht da rauf", sagte mein Mann. Ich erinnerte mich an die Panikattacke zwei Jahre zuvor auf einer Bergwanderung. Meine Verzweiflung, als ich mich ein Jahr später auf einer Klettertour plötzlich nicht mehr traute, mich auf das Material oder seine Fähigkeiten als Führer zu verlassen. "Es geht nicht, Schatz, ich muss nach unten!", hatte ich damals geschrien, beschämt, verängstigt und voller Schwindelgefühle. Auch dieses Mal wurde mir schwindelig, als ich auf den Berggipfel schaute. Aber ich spürte auch, dass mein Herz ruhig schlug und ich neugierig auf den Weg nach oben war. "Ich weiß. Aber ich möchte es gern", sagte ich.
Zwei Stunden später genoss ich die tolle Aussicht auf dem Gipfel, posierte fröhlich für ein Foto, aß einen Müsliriegel und hatte zu meinem eigenen Erstaunen überhaupt keine Angst. Ich war aber auch nicht furchtbar froh. Offenbar war es "einfach" so weit. Ich hatte noch immer Höhenangst, aber nicht mehr so extrem. Die Verschiebung war in den vergangenen Jahren so allmählich erfolgt, dass sie mir nicht mal bewusst geworden war. Das ist normal, sollte mir später klar werden: So überwinden die meisten Menschen ihre Ängste. Inzwischen habe ich sehr viel Erfahrung damit, weil ich selbst eine Menge Ängste überwinden musste: vor dem Autofahren, dem Fliegen, vor Hunden, davor, einen Vortrag zu halten, und so weiter.
Als ich im Rahmen meiner Arbeit anfing, mich mit Stressmanagement zu beschäftigen, lernte ich, wie man dabei vorgehen kann. Ich sprach mit Experten und erfuhr, dass es nachgewiesene effektive Strategien gibt, die einem helfen können, bei Stress ruhig zu bleiben. Entspannungsübungen zum Beispiel, aber auch, kleine unbequeme Schritte zu machen, um auf diese Weise den eigenen Mut zu vergrößern. Eine weitere Methode: eine Angstanalyse zu erstellen, die einem Einblick in die Rationalität der Angst gibt. All das wandte ich auf meine eigenen Ängste an. So lernte ich zum Beispiel nach einem Fast-Autounfall, wieder mehr Vertrauen in meine Fahrqualitäten zu bekommen. Ich schaffte es bei Präsentationen, meine Nerven zu bezwingen, legte mir einen Hund zu und flog frei von Angstschweiß für meine Forschungsarbeit um die Welt.
Wahrscheinlich sah es von außen immer aus, als würde ich spektakuläre Veränderungen erleben, aber so fühlte es sich nie an. Genauso, wie es beim Überwinden der Höhenangst war, verliefen auch die Übergänge bei meinen anderen Ängsten so stufenweise, dass ich längst nicht immer merkte, wenn sie erfolgt waren. Bis ich eines Tages plötzlich am Steuer saß und keinen Widerwillen mehr gegen die Fahrt verspürte. Bis ich plötzlich auf der Straße einen großen Hund sah und ihn streichelte, ohne zu zaudern. Hallo? Seit wann hatte ich keine Angst mehr? Seitdem ich an meiner Angst rüttelte. Tag für Tag, Übung für Übung. So nämlich überwindet man Ängste. Manchmal dauert es Wochen, manchmal Monate, manchmal sogar Jahre. Als Belohnung bekommt man keinen kurzen Moment der Euphorie, sondern dauerhafte Freiheit.
Auf in ein Angstfreies Leben
Das Gegenteil der Angst, die Ihr Tun und Lassen bestimmt, ist ein Leben, das von Ihren Wünschen regiert wird. Wie genau ein angstfreies Leben aussieht, ist für jeden anders. Aber es besteht immer aus Dingen, die Sie neugierig machen, die Sie nicht loslassen – sogar, wenn Sie Manschetten davor haben. Das kann alles Mögliche sein: Ihren Job kündigen und selbstständig werden, diesem einen so besonderen Menschen Ihre Liebe erklären oder Ihrer Mutter sagen, dass Sie es ab jetzt wirklich allein schaffen.
Oft fühlt es sich unangenehm an, Dinge zu üben, die man zwar will, aber extrem beängstigend findet. Manchmal ist es ein wenig öde, manchmal verzweifelt man auch. Aber dann ist da plötzlich Ruhe: Die Angst ist verschwunden. Diese Erfahrung ist nicht so atemberaubend, wie die Bungee-Jumping-Werbung uns glauben machen will, aber mindestens ebenso wertvoll.
Roanne van Voorst ist Anthropologin und Autorin und hat zwölf Jahre lang über Angst und Mut geforscht.
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