"Ich verlor Frau und Kind bei der Geburt"
Dennis (52) verlor vor 14 Jahren seine große Liebe und ihr gemeinsames Kind im Kreißsaal. Wie lebt man weiter, wenn nichts mehr ist, wie es war?
Hedy war mein Leben, meine erste große Liebe. Wir waren 18 Jahre zusammen und unzertrennlich. Es war ein unwirkliches Gefühl, als sie schwanger wurde, ich wollte eigentlich keine Kinder. Aber dann war auch ich schnell im Babyfieber. Ich ging mit zur Hebamme, rieb Hedys Bauch mit Öl ein, massierte ihren schmerzenden Rücken. Wir erlebten alles gemeinsam.
Obwohl sie fast zwei Wochen überfällig war, wollte Hedy zu Hause gebären. Als die Wehen einsetzten, waren wir ausgezeichnet vorbereitet. Die Heizung höhergestellt, Kerzen angezündet, ein Gebärhocker im Wohnzimmer. Es dauerte lange, bis sich der Muttermund vollständig geöffnet hatte. Trotzdem erlaubte die Hebamme meiner Frau, nach einiger Zeit zu pressen. Auf dem Stuhl sitzend, im Stehen... Und ich half, so gut ich konnte. Doch irgendwann war klar, dass Hedy keine Kraft mehr hatte und das Baby, laut Hebamme, nicht weiter ins Becken rutschen würde. Wir fuhren so schnell wie möglich ins Krankenhaus.
Der Gynäkologe entschied sich für einen Kaiserschnitt. Hedys Becken war zu schmal, sie musste sofort in den OP. Das Herz des Kindes schlug noch, Hedys Blutdruck war gut, sie war nur völlig erschöpft von den vielen Stunden Wehen. Der Gynäkologe vermittelte mir das Gefühl, alles würde gut werden. Mich schickten sie in ein anderes Zim- mer, um die grüne OP-Kleidung anzuziehen.
Als ich den Operationssaal betrat, sah ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Bild werde ich nie vergessen: Die vielen Leute im OP, das Pflegepersonal, der Anästhesist, der Gynäkologe und sein Assistent, die mit dem Schnitt beschäftigt waren ... Ich sah die Panik in ihren Augen. "Alles unter Kontrolle", rief jemand, aber eine weiße Flüssigkeit quoll aus den Infusionsnadeln und aus Hedys Nase. Sie sackte immer weiter weg. Ich sah noch einmal hin, sie murmelte etwas, und ich sagte: "Ich liebe dich." In dem Moment kam der Anästhesist zu mir. "Ihr Kind ist tot" – und drückte mir meinen Sohn einfach in die Arme.
Ich lief wie ein Zombie auf den Gang, mein totes Kind in den Armen. Hedys Mutter und ihr Stiefvater standen draußen, warteten auf die frohe Nachricht. "Das geht nicht gut", brachte ich heraus. Mein Kind fühlte sich an wie ein Paket. Ich konnte nur an Hedy denken und gab das Baby ihrer Mutter. Ich war total panisch, verzweifelt und vor allem machtlos. Unruhig lief ich durch die Gänge. Plötzlich standen drei Ärzte vor mir. "Herr Meulemans, wir müssen Ihnen eine traurige Mitteilung machen: Ihre Frau ist gestorben." Trotz der Beruhigungstablette, die ich bekommen hatte, drehte ich vollkommen durch. Ich riss mir büschelweise Haare aus und warf mit allem, was dort stand, Stühlen, Lampenschirmen, sogar einem entsetzlich schweren Pflanzkübel. Erst als mich mein Bruder festhielt und sagte, ich müsse mich beruhigen, ging mir die Wut aus. Ich verkroch mich in eine Ecke, den Kopf in den Händen. Total kaputt, alles tat weh.
Die Tage danach überstand ich mit Tabletten. Ich war am Ende, empfand kaum etwas, nur Druck auf meinem Hirn. Wie ein Vulkan kurz vorm Ausbruch. Auch die Beerdigung erlebte ich wie hinter einem Schleier. Es war alles perfekt organisiert, ich habe sogar selbst noch etwas gesagt, war aber nicht wirklich da. Mein Gehirn hätte einen zu großen Schlag erlitten, erklärte mir der Psychiater später. Es fühlte sich an, als könnte ich keine einzige "Spannung" mehr ertragen.
Nach Hedys Tod wohnte ich drei Wochen bei meinem Bruder, später bei guten Freunden. Alle nahmen großen Anteil. Mit einer Freundin ging ich jeden Abend spazieren. Einmal liefen wir durch die Stadt und sahen hinter einem Fenster ein junges Paar mit Kind. Ich blieb kurz stehen. Das ist so verdammt ungerecht, dachte ich.
Die Psychologen, mit denen ich sprach, stellten immer die falschen Fragen. Ich konnte einfach nicht mit ihnen. Über einen Freund landete ich irgendwann bei einem Psychiater in meinem Viertel. Als Erstes sagte er: "Setz dich, wie geht’s dir jetzt?" Sehr menschlich. Ich fühlte mich sofort wohl. Ich musste Dinge aufschreiben, Geschichten, Gedichte, die ich dann mit ihm besprach. Sie strömten nur so aus meinem Stift. Der Psychiater hörte einfach zu, sehr intensiv. Und machte mir klar, was für ein Trauma ich durchlebt hatte. Noch immer gehe ich einmal im Jahr zu ihm, einfach um zu reden.
Im ersten Jahr war ich auch viel auf Reisen. In Brasilien, Frankreich und anderen Orten, wo ich auch mit Hedy ge wesen bin. Ich wanderte lange und oft durch die Natur, und überall, wo ich hinkam, zündete ich für Hedy Kerzen an, die ich stets dabeihatte. Es war eine Art Abschiedstournee. Sehr heftig, aber sie tat mir gut. Wenn ich allein war, konnte ich hin und wieder auch ganz laut schreien. Den meisten Kummer und die Wut, die ich in mir hatte, habe ich in der Zeit herausgebrüllt. Nach anderthalb Jahren fühlte ich mich besser. Ich musste nicht mehr flüchten, war bereit, mein Leben weiterzuführen.
Ihr Kind ist tot“, sagte der Anästhesist und drückte mir meinen Sohn in die Arme.
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Seit Hedy und unser Sohn gestorben sind, lebe ich unbefangener. Ich nehme das Leben nicht mehr so ernst, es kann morgen ja schon vorbei sein. Ich lebe nicht unverantwortlich, aber etwas lockerer. Das sagt meine Frau manchmal, wenn es um Hypotheken geht oder die Zukunft unserer Kinder. Ich bin auch emotionaler geworden, vor allem wenn ich sehen muss, dass Kinder leiden.
Machtlosigkeit ist das, was mich heute am meisten frustriert. Nach der Autopsie stellte sich heraus, dass Hedy am seltenen HELLPSyndrom gestorben war. Das kann während der Schwangerschaft ein akutes Leberversagen verursachen. Ein Zug, der nicht mehr aufzuhalten war. Einfach Pech.
An besonderen Tagen zünde ich immer noch zwei Kerzen an, zu ihren Geburtstagen oder wenn ich im Urlaub eine Kirche besuche. Eine für Hedy und eine für unseren Sohn. Sie haben einen schönen Raum in meinem Herzen bekommen und werden dort für immer wohnen.
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Dennis' Geschichte ist in Ausgabe 3/2017 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das komplette Heft können Sie im Shop nachbestellen.