"Ich habe jemanden überfahren"
Rinus (63) überfuhr mit dem Lkw einen Jungen, der noch am Unfallort starb. Rinus traf daran keine Schuld. Und doch: Wie lebt man weiter, wenn einem so etwas widerfährt?
Es geschah an einem Dienstag, am späten Vormittag. Gerade hatte ich zwei Container in einem Industriegebiet abgeliefert und stand nun an einer Kreuzung. Ich war auf dem Nachhauseweg, mein Arbeitstag beendet. Plötzlich überquerte ein Junge die Straße, er tauchte wie aus dem Nichts auf. Es ging so schnell, dass ich nicht einmal mehr weiß, wie er aussah. Ich bekam einen Schrecken, als er plötzlich an der Tür meines Fahrerhauses rüttelte. Zum Glück war sie verriegelt. Die Ampel sprang auf Grün, und ich fuhr los.
Als ich beschleunigte, spürte ich unter den Rädern einen seltsamen Hubbel. Ich wusste sofort, dass etwas Schreckliches geschehen war.
Von der Bushaltestelle, die direkt an der Kreuzung lag, kamen sofort Leute angerannt. Ich traute mich nicht nachzusehen, was ich da überfahren hatte. Ich stellte mich vor meinen Wagen und zündete mir eine Zigarette an – damals war ich noch starker Raucher. Ich war völlig verwirrt, meine Beine zitterten. Was in dem Moment alles um mich herum geschah, begriff ich kaum, aber ich habe wohl noch meine Frau angerufen, um ihr zu sagen, dass es später werden würde.
Die Polizei und der Krankenwagen waren rasch zur Stelle, aber sie konnten nichts mehr für den Jungen tun. Mich nahmen sie mit aufs Präsidium, um eine Aussage zu machen. Es war sofort klar, dass ich weder getrunken hatte noch zu schnell gefahren war, ich war ja gerade erst angefahren. Ich konnte nichts anderes sagen, als dass ich ihn wirklich nicht gesehen hatte.
Später hörte ich von der Polizei, dass der Junge von zu Hause abgehauen war. Er hatte sich mit seinem Bruder wegen Drogen gestritten. Nachdem er vergeblich versucht hatte, meine Wagentür zu öffnen, hat er sich wahrscheinlich seitlich an meinen Wagen gehängt. Er ist gefallen und unter meinen Hinterrädern gelandet. Manchmal denke ich: Hätte ich doch nur kurz in den Außenspiegel geschaut, dann hätte ich ihn vielleicht gesehen. Aber ich war schon dadurch abgelenkt, dass er einfach an meiner Wagentür gerüttelt hatte.
Nach dem Unfall blieb ich den Rest der Woche zu Hause. Ich war völlig durcheinander, saß nur auf dem Sofa und weinte. Immer wieder spielte ich im Kopf das Geschehene durch. Dass ich den Lastwagen noch abholen und dabei an der Kreuzung vorbeifahren musste, machte es nicht besser. Aber seltsamerweise klappte es dann ganz gut – und nach drei Tagen war ich wieder bei der Arbeit. Mein Leben ging weiter, es gab ja keine andere Lösung. Aber ich cancelte alle Aufträge in dem betreffenden Ort, da ich das Gefühl hatte, nicht einfach dort herumfahren und die Leute mit meinem Lkw konfrontieren zu können.
Mit der Familie des Jungen bin ich nie in Kontakt getreten. Ich weiß nicht mal genau, wie er heißt oder wie alt er war. Der zuständige Polizist hatte mir davon abgeraten: "Halten Sie Abstand, unternehmen Sie nichts weiter." Vermutlich hat das auch mit dem Hintergrund des Jungen zu tun, mit den Drogen. Hätte ich davon nichts gewusst, vielleicht hätte ich einen Brief geschickt oder so. Was ich dann geschrieben hätte? Das weiß ich nicht so genau. Ich finde schrecklich, was passiert ist, aber ich konnte ja wirklich nichts dafür.
Als der Unfall passierte, war zufällig eine Frau vor Ort, die in der Opferhilfe tätig ist. Mit ihr habe ich ein paar Gespräche geführt, aber worum es dabei genau ging, daran erinnere ich mich nicht mehr – ich glaube nicht, dass es mir viel gebracht hat. Ich hatte damals nicht das Bedürfnis, darüber zu reden. Es war passiert, es war nicht meine Schuld, ich wollte einfach mein Leben weiterleben. Vielleicht war das ein leichtfertiger Gedanke, und es wäre doch gut gewesen, mehr darüber zu sprechen.
Manchmal merke ich, wie es in mir arbeitet. Dann überrollt mich plötzlich der Kummer, zum Beispiel wenn ich einen rührenden Film sehe oder darüber rede, so wie jetzt. Dann kann ich es nicht mehr kontrollieren, aber dafür schäme ich mich nicht, ich lasse die Tränen einfach zu. Bis die Trauer allmählich wieder verebbt.
Ich kann nicht mehr an der Kreuzung vorbeifahren, ohne an diesen einen Tag zu denken; der Unfall ist sofort wieder präsent. Er hat mich aber als Mensch nicht weiter verändert, glaube ich. Ich bin nicht depressiv veranlagt, war es noch nie. Und ich bin auch nicht vorsichtiger unterwegs: Ich war schon immer ein behutsamer Fahrer. Allerdings bin ich mir jetzt noch sicherer, dass ich mich nie alkoholisiert ans Steuer setzen würde; so was will man nicht auf dem Gewissen haben. Manchmal warne ich andere Leute davor, indem ich von dem Unfall erzähle. So etwas kann jedem passieren – das ist vielleicht die Lektion, die ich ge lernt habe. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort.
Weiterlesen
Rinus' Geschichte ist in Ausgabe 2/2017 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Dieses Heft ist leider vergriffen, aber falls Sie sich für andere Ausgaben von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter interessieren, schauen Sie gern im Shop vorbei.