"Ich bin jetzt die Frau im Rollstuhl"
Durch den Fehler eines Anästhesisten wird Karin (heute 62) nie mehr laufen können. Wie lebt man weiter, wenn nichts mehr ist, wie es war?
Natürlich ist eine Operation immer aufregend. Ich wurde schon einmal operiert und hatte durch die OP damals nachher einen Leistenbruch. Dieses Mal ging es um eine Bauchwandkorrektur. Nichts Besonderes, ein Eingriff, der täglich durchgeführt wird. Ich sollte höchstens ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Der Anästhesist brachte vor der Operation eine Kanüle im Zwischenwirbelraum meiner Wirbelsäule an, um später eine Medikamentenpumpe zur Schmerzbekämpfung daran anschließen zu können. Die Rückenmarksspritze machte ihm große Schwierigkeiten, das spürte ich schon.
„Soll ich jemanden hinzuholen?“, fragte der Krankenpfleger. Das war nach Meinung des Anästhesisten nicht nötig. Unbeirrt machte er weiter. Erst nach mindestens fünf Versuchen gelang es ihm, die Kanüle zu befestigen. Nach der Operation merkte ich sofort, dass ich kein Gefühl mehr im rechten Bein hatte. Ebenso wenig im Bauch und im unteren Rückenbereich. Wenn ich mich kniff, spürte ich nichts. Der Arzt meinte, so etwas käme öfter vor. Aber nach zwei Tagen konnte ich mein Bein immer noch nicht bewegen.
Allmählich machte ich mir Sorgen. Ich sollte mich auf den Bettrand setzen und beide Füße aufstellen. Ich versuchte aufzustehen, fiel aber sofort um. Ich wurde wütend, war außer mir. Danach habe ich fürchterlich geweint. Es stellte sich heraus, dass ich eine inkomplette Querschnittslähmung hatte. Allerlei Gedanken schossen mir durch den Kopf: Ich kann so nicht allein nach Hause, wer weiß, vielleicht kann ich bald gar nichts mehr, wie soll das mit meinem Mann und den Kindern gehen?
Allerlei Ärzte kamen an mein Krankenhausbett, aber niemand traute sich zu sagen, was genau bei der Rückenmarksspritze schiefgegangen war. Sie wollten nicht einmal zugeben, dass etwas falsch gelaufen war - obwohl ich auf dem Scan ganz deutlich einen Bluterguss sah. Nur der Rehabilitationsarzt im Krankenhaus gab mir einen Rat, der mir weiterhalf: Das Erlebnis sei viel zu schwerwiegend, sagte er, ich müsse es Schritt für Schritt verarbeiten. Mit Gesprächen und Übungen rettete ich mich mühsam durch diese schwere erste Zeit.
Nach drei Wochen im Krankenhaus fing ich mit einer dreimonatigen Rehabilitation an. Meinem rechten Bein wurde ein Bügel angepasst, in der Hoffnung, ich könnte damit besser gehen. Ich fühlte ständig an meinen Beinen und am Bauch, ob sich etwas verändert hatte. Aber das Gefühl kam nicht zurück. Manchmal lag ich den ganzen Tag nur im Bett, hatte am liebsten niemanden um mich herum. Ich fühlte mich sehr einsam.
Die ersten Morgen allein zu Hause waren am schlimmsten. Die Kinder gingen zur Schule, mein Mann zur Arbeit, und da saß ich dann. Nachdem ich mich mühsam angezogen hatte, musste ich mir noch den Gehbügel anlegen. Alles, was ich tagsüber brauchte, wie ein Buch, Kreuzworträtsel, Schminksachen, packte ich in einen Rucksack. Damit ging ich auf Krücken die Treppe in unserem Haus hinunter. Es dauerte ewig, bis ich unten ankam; ich fühlte mich machtlos und unbeholfen.
Dann bekam ich einen Rollstuhl und entwickelte langsam neue Routinen. Unser Haus wurde umgebaut, Schlaf- und Badezimmer kamen nach unten - und ich konnte alles wieder selbst machen. Zum Glück konnte ich schnell wieder in meinem Job als Büroangestellte arbeiten, in dem Unternehmen, in dem auch mein Mann beschäftigt war. Wir fuhren mit dem Auto zusammen hin. Die Arbeit lenkte mich ab, ich saß nicht mehr grübelnd zu Hause.
Irgendwann habe ich überlegt, rechtliche Schritte einzuleiten. Mein Mann hatte die Idee. Sie sollten ihre Fehler wenigstens zugeben, meinte er. Wir wandten uns an einen Anwalt für Personenschäden – und realisierten erst dann, wie schwierig es ist, gegen große Unternehmen wie ein Krankenhaus und eine Versicherungsgesellschaft zu kämpfen. Das Verfahren dauerte über zehn Jahre. Manchmal wachte ich mit dem Gefühl auf, wir würden nie gewinnen, aber dann ärgerte ich mich sofort über mich selbst: Aufgeben ist genau das, was sie wollen!
Schließlich gab man in der Klinik doch zu, falsch gehandelt zu haben, und vor zwei Jahren bekam ich endlich Schadenersatz. Unglaublich, wie lange das gedauert hat. Aber es ist schon eine Genugtuung, gegen ein so großes Unternehmen gewonnen zu haben.
Eigentlich dachte ich, ich hätte mich mit meiner Situation mittlerweile ganz gut abgefunden. Bis ich vor gut zwei Jahren wieder wegen einer Untersuchung ins Krankenhaus musste, bei der ich eine leichte Betäubung bekam. Plötzlich kam alles wieder: die Rückenmarksspritze, die Lähmung ... Ich war tagelang verstört. Daran habe ich gemerkt, dass es doch noch sehr tief sitzt.
Es dauerte ewig, bis ich die Treppe runterkam. Ich fühlte mich machtlos und unbeholfen
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"Sieh doch, was du alles noch kannst", sagt man mir regelmäßig. Aber so einfach ist das nicht. Ich kann Dinge nicht mehr spontan unternehmen. Einen Spaziergang machen oder einfach so mit einer Freundin durch die Stadt bummeln, das alles geht nicht mehr. Ich habe ein behindertengerechtes Auto, aber ich muss jeden Ausflug vorher genau planen, auch weil ich meine Blase über einen Katheter entleere. Ich habe früher gern ausgiebig gekocht, aber das kostet mich jetzt zu viel Kraft. Weihnachten muss ich die Kinder bitten, selbst auch etwas mitzubringen, das finde ich schade. Und es fällt mir schwer, neue Leute kennenzulernen, denn für die bin ich vor allem "die Frau im Rollstuhl".
Durch das, was passiert ist, bin ich anderen gegenüber härter geworden. Ich ärgere mich schnell, wenn jemand wegen einem Wehwehchen jammert. Leider hat das Unternehmen, in dem mein Mann und ich arbeiteten, 2013 Konkurs gemacht. Ich habe begonnen, moderne Unternehmenskommunikation zu studieren, weil ich gern nach vorn blicken will. Und auch unser Enkelkind, das jetzt anderthalb ist, ist ein Lichtblick.
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Karins Geschichte ist in Ausgabe 2/2018 von PSYCHOLOGIE bringt dich weitererschienen. Das komplette Heft können Sie hier nachbestellen.