Hilfe, ich muss telefonieren
Schieben Sie wichtige Telefonate gern auf? Und reagieren auf verpasste Anrufe mit einer SMS? Damit sind Sie nicht allein: Wir alle telefonieren immer seltener. Leider! Denn zum Hörer zu greifen ist nicht nur effizienter – es macht auch Freunde
"Sonst mailen Sie mir doch einfach", sagen wir und würden am liebsten gleich wieder auflegen. Ein Verhalten, das vor 15 Jahren noch ein Unding gewesen wäre: Da fanden wir es selbstverständlich, Fragen telefonisch zu klären, einen Termin via Anruf zu vereinbaren. Heute wollen wir all das lieber auf unserem Laptop oder im Mobiltelefon nachlesen können.
Kurz: Wir rufen immer seltener an. Ein Viertel aller Smartphone-Besitzer führt nicht mehr als ein einziges Telefongespräch pro Woche, nutzt dasselbe Telefon jedoch täglich anderthalb Stunden für andere Dinge, fand das britische Forschungsinstitut Ipsos Mori heraus. Mehr noch: Jeder vierte Japaner telefoniert mit seinem Smartphone überhaupt nicht mehr, weiß das Telefonunternehmen Ericsson. Und auf einer Technologie-Konferenz in New York erzählten Jugendliche, sie würden nur noch in äußersten Notfällen telefonieren. Eine schräge Konsequenz da raus ist, dass die niederländischen Hochschulen Windesheim und Fontys ihren Studierenden seit Kurzem geschäftlichen "Telefonunterricht"anbieten, weil sie sonst zu wenig Übung darin haben.
LIEBER NICHT STÖREN
Warum nutzen wir unser Telefon immer zurückhaltender? Es gibt ein Wort dafür: Zeitautonomie. Es steht für das Phänomen, dass wir die Möglichkeit haben wollen, selbst zu entscheiden, wann wir etwas tun – etwa mit jemandem sprechen. Wir simsen, mailen, whatsappen und schwatzen per Facebook-Messenger, aber für all diese Arten der Kommunikation gilt: Man kann sich immer entscheiden, jetzt gerade nicht zu reagieren. Ein Anruf vermittelt uns eher das Gefühl eines "Überfalls", denn wir haben dabei diese Wahl nicht. Aber: Es ist nicht immer sinnvoll, einer Textnachricht den Vorzug zu geben, zeigen wissenschaftliche Untersuchungen.
"Es entsteht eine Art Schwellenangst", sagt Therapeut Herm Kisjes vom Psychologischen Zentrum Momentum, der auch Menschen mit Telefonangst hilft. "Wenn man nicht regelmäßig telefoniert, bleibt dieser Widerwille, zum Hörer zu greifen, oder er steigert sich sogar noch." Seine Botschaft lautet daher: Rufen Sie an! Und ignorieren Sie es nicht, wenn das Telefon läutet. Je öfter Sie telefonieren, desto leichter wird es Ihnen fallen.
Zum Schluss noch dieses: Aus einer amerikanischen Studie geht hervor, dass wir via Telefon leichter eine Beziehung zu einem Unbekannten aufbauen als per E-Mail. Vielleicht liegt es daran, dass wir dazu neigen, uns während eines Telefongesprächs freundlicher zu verhalten als in einem geschriebenen Text. Wenn wir beispielsweise Kollegen wegen einer Projektkoordination anrufen, verwenden wir oft positivere Worte als in einer E-Mail, zeigt eine andere Studie aus den USA. Telefonieren ist also angenehmer und kann sogar die Arbeitsleistung verbessern. Denn offensichtlich geben sich Menschen, die sich mögen, mehr Mühe, etwas gut zu machen – auch für den anderen.
Drei Ausreden, um nicht anrufen zu müssen – und Gründe, warum Sie es doch lieber tun sollten:
- MAILEN IST SCHNELLER UND EFFIZIENTER
Das ist ein Missverständnis. Der durchschnittliche Arbeitnehmer verbringt heute fast ein Drittel seines Tages mit Mailen, analysierte die Unternehmensberatung McKinsey. Durch diesen endlosen Nachrichtenstrom verspüren wir einen großen Druck, schnell zu reagieren: Unsere Eingangsbox darf nicht so voll werden, dass wir den Rückstand nicht mehr aufgearbeitet bekommen. Und während wir unsere Mails beantworten, warten allerlei andere Tätigkeiten auf uns.Dieser Druck macht unsere Formulierungen weniger sorgfältig und deutlich – mit der Folge, dass es oft Rückfragen gibt und manchmal gut sechs Nachrichten braucht, bevor der Empfänger voll im Bilde ist. Das sei ziemlich ärgerlich, meint der Australier James Phillips. Er ist klinischer Psychologe und führt viele Studien durch, die sich damit befassen, wie Menschen die neue Technologie nutzen, und sagt: Mailen kostet so nur extra Zeit und Energie.
Dieses endlose Hin und Her können Sie vermeiden, indem Sie miteinander telefonieren. Stimmen Sie sich vorher ab, wann es gut passt, vor allem, wenn Sie ein kompliziertes Thema besprechen müssen. Durch konsequentes Nachfragen beiderseits können Sie eventuelle Unklarheiten in nur einem einzigen Gespräch beseitigen.
- SCHRIFTLICH KANN ICH MICH BESSER AUSDRÜCKEN
Auch das ist nicht immer der Fall. Okay, wenn Sie whatsappen, simsen oder mailen, können Sie Ihre Worte tatsächlich sorgfältiger wählen. Aber das bedeutet nicht immer, dass der andere Sie auch gut versteht. Es kommt sehr auf die Details an. So wirken Menschen, die ihre SMS-Nachrichten mit einem Punkt beenden, weniger aufrichtig, schlussfolgerten US-Forscher in einer Studie zur Interpretation von Kurznachrichten. Außerdem fehlen bei diesen Stimme und Intonation. Spricht jemand nervös, zornig oder begeistert? Macht er einen Scherz? Ohne Stimme entgehen Ihnen einige Signale, die für die Interpretation einer Nachricht bedeutsam sind.Aus einem geschriebenen Text können wir also leicht falsche Schlussfolgerungen ziehen. Wir neigen sogar dazu, neutrale Nachrichten negativ aufzufassen, stellte sich kürzlich bei einer kanadischen Studie heraus. So wirkte eine SMS von einem Kollegen mit der Mitteilung, er habe die ganze Nacht durchgearbeitet, um eine Präsentation fertigzustellen, unheilvoll, obwohl die Nachricht neutral formuliert war. Bei einem Telefonat wäre sofort klar gewesen, wie der Kollege seine Mitteilung meint.
- ICH KANN EINFACH NICHT GUT TELEFONIEREN
Manche Menschen fühlen sich beim Telefonieren unwohl. Sie fragen sich, ob sie überhaupt eine zusammenhängende Geschichte erzählen können, wie sie ihre Nachricht gut überbringen… Das ist eigentlich gar nicht so ungewöhnlich. Mit jemandem zu reden, ohne seinen Gesichtsausdruck und unterstützende Gebärden zu sehen, kann sich unnatürlich anfühlen und verunsichern. Am Telefon ist man zudem gezwungen, schnell zu reagieren, während man per E-Mail lange über seine Antwort nachdenken kann. Hinzu kommt: Da wir immer öfter über andere Medien kommunizieren, üben wir das Telefonieren auch weniger.
Quellen u. a.: J. Goodman-Deane u. a., The impact of communication technologies on life and relationship satisfaction, Computers in Human Behavior, 2016 / B. Lundy, M. Drouin, From social anxiety to interpersonal connectedness, Computers in Human Behavior, 2016 / M. Kingsbury, R. Coplan, RU mad @ me?, Computers in Human Behavior, 2016 / Communication in the world of apps: Understanding how app usage is transforming the way we interact, Ericsson Consumer Insight Summary Report, 2015 / D. Gunraj u. a., Texting insincerely: The role of the period in text messaging, Computers in Human Behavior, 2016
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Der Artikel zum Thema Telefonieren ist in Ausgabe 1/2017 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das komplette Heft können Sie im Shop nachbestellen.