Familiengeheimnis: "Keiner merkte, wie einsam ich war"
Ein Leben wie Pippi Langstrumpf, nur deutlich weniger fröhlich: Seit der Scheidung ihrer Eltern wohnte Simone (heute 48) ganz allein - mit gerade mal 13 Jahren.
Rückblickend frage ich mich, wieso keiner dachte: Das geht doch nicht, eine 13-Jährige, die allein wohnt? Ich aber ließ mir nichts anmerken. Wenn jemand seine Hilfe anbot, winkte ich ab und sagte, ich käme gut zurecht. Es funktionierte auch gut, ich war rechtzeitig im Bett, vernachlässigte die Schule nicht. Aber ich fühlte mich sehr einsam. Wir waren nie eine glückliche Familie. Mein Vater verließ seine erste Frau für meine Mutter, als sein jüngstes Kind ein Baby war. Meine Mutter wurde fast sofort schwanger. Bei uns zu Hause hing der Haussegen ständig schief. Mein Vater schlug meine Mutter, auch schon, wie ich später erfuhr, als sie noch mit meiner Schwester schwanger war. Drei Jahre später wurde ich geboren. Damals führten sie eine Kneipe, ein recht chaotisches Unternehmen. Wir Kinder schlugen uns so durch und aßen zwischen den Gästen.
Ich war ungefähr fünf, als ein Feuer in der Kneipe ausbrach und meine Eltern sie aufgeben mussten. Ab da führten wir so etwas wie ein normales Familienleben. Mein Vater arbeitete auf dem Bau, meine Mutter in der Gastronomie, und wir Mädchen gingen in die Schule. Mein Vater aber blieb unberechenbar – schon wenn man eine Tür zu fest zuschlug, konnte er explodieren. Ich versuchte, mich unsichtbar zu machen: nicht auf der Bildfläche erscheinen, keine Fragen stellen. Meine Mutter kassierte regelmäßig Schläge für uns. Ein paar Mal verließ sie ihn, dann wohnten wir bei ihrer Schwester. Aber nach ein paar Tagen ging sie immer wieder zu ihm zurück. Ich nehme an, sie hoffte, er würde sich ändern.
Eines Tages – ich war 13 – war das Maß wohl doch voll, und sie trennten sich. Für mich eine Erleichterung. Meine Mutter kam danach mit dem Wirt der Kneipe zusammen, in der sie arbeitete. Sie zog bei ihm ein, suchte aber auch nach einer Wohnung – wohl aus steuerlichen Gründen. Da meine Mutter keinen geeigneten Platz für uns Kinder hatte, sprach der Richter uns vorübergehend unserem Vater zu, der in unserem Haus geblieben war. Meine Schwester übernahm die Mutterrolle: Sie kochte und wusch die Wäsche. Aus Pflichtgefühl vermutlich. Sogar als sie auszog, sorgte sie weiter für ihn, bis er 2012 starb.
Ohne meine Mutter hielt ich es bei meinem Vater nicht mehr aus. Sie und ihr Freund wohnten über der Kneipe, wo es eng war und laut, dort konnte ich auch nicht hin. Doch sobald meine Mutter eine Wohnung gefunden hatte, packte ich meine Sachen und ging, ohne meinem Vater etwas zu sagen. Meine Mutter gab mir den Schlüssel, und ich zog mit ihrem Einverständnis dort ein. Aber als sie erfuhr, dass mein Vater von nichts wusste, sagte sie, ich müsse ihm erzählen, wo ich war. Ich hatte wahnsinnige Angst, aber es war gar kein Thema, und ich wurde auch nicht von ihm geschlagen. Ab da ging ich ab und an zum Fernsehen wieder zu meinem Vater.
In der Wohnung meiner Mutter war ich auf mich allein gestellt. Ich weiß nicht wie, aber ich schaffte es. Ich rauchte nicht, trank nicht, hatte nicht die falschen Freunde. Ich staubsaugte und bezog mein Bett frisch. Meine Mutter kam einmal die Woche, machte richtig sauber, bezahlte alles für mich. Kochen hatte ich nie gelernt, aber ich briet mir manchmal ein Ei. Ich wollte wohl keinen enttäuschen, denke ich. Das erwartete man von mir, also folgte ich.
Auf dem Heimweg von der Schule radelte ich stets an der Kneipe meiner Mutter vorbei, um etwas zu essen. Wahrscheinlich dachte sie, mich so ein wenig im Auge zu behalten. Auch zu meiner Tante ging ich manchmal essen. Und ich hatte noch beide Omas. Alle sagten: Wie gut du zurechtkommst! Allmählich glaubte ich es selbst.
In Wirklichkeit fühlte ich mich sehr allein. Bei den Mädchen meiner Klasse fand ich wenig Anschluss. Ich spürte, dass ich anders war, und sie konnten sich mein Leben nicht vorstellen. Ich hatte Wochenendfreundinnen, Brieffreundinnen aus einer Mädchenzeitschrift. Sie kamen gern zu mir, weil ich sturmfrei hatte, so ohne Eltern. Ich dagegen ging lieber zu ihnen, in Familien, die abends um sechs Uhr zusammen am Tisch aßen.
Die Wohnungen, die meine Mutter mietete, hatte sie immer nur für kurze Zeit. In den Jahren, in denen ich allein wohnte, zog ich vier Mal um. Daher kam ich nirgends wirklich in Kontakt mit den Nachbarn, sodass diese nie dachten: Ein Mädchen so allein, hat das seine Ordnung? Ich bat auch nie um Hilfe, sagte nicht, wenn mich etwas bedrückte. Nicht meiner Mutter, nicht meiner Tante. Eine Wohnung lag über einer Kneipe, ein altes Haus, in dem es vor Mäusen nur so wimmelte. Dort fürchtete ich mich.
An Kummer erinnere ich mich aber nicht. Ich glaube, ich befand mich vor allem in einer Art Überlebensmodus. Je älter ich wurde, desto normaler wurde die Situation, und nach meinem Schulabschluss suchte ich mir Arbeit. Kurz danach lernte ich meinen Mann kennen, wir heirateten, als ich 25 war, und bekamen zwei Söhne.
Es ist, als hätte ich immer Theater gespielt und würde mich jetzt fragen: Wer bin ich?
Simone über ihr FamiliengeheimnisTweet
Vor zwei Jahren wurde bei meiner Mutter Krebs diagnostiziert. Zur gleichen Zeit lief das Geschäft meines Mannes schlecht. Mich belastete das alles sehr, nichts in meinem Leben schien mehr zu stimmen. So landete ich bei einer Psychologin. Sie machte mir klar, wie wenig normal meine Situation als Teenager gewesen war und wie sehr das mein Leben beeinflusst hatte. Dass ich nicht stark war, sondern nur so tat, weil mich alle dafür lobten.
Inzwischen gehe ich zu einem Haptonomen, dort gelingt es mir besser, an meine Gefühle heranzukommen, auch an die von damals. Daran, dass ich eigentlich ein kleines Mädchen war, das innerlich um Hilfe rief. Bei dem Haptonomen hatte ich unglaubliche Weinkrämpfe. Erst jetzt sehe ich so langsam, was mir gefehlt hat. Neulich wählte mein jüngster Sohn in der Schule seine Fächerkombination, und wir redeten über Berufe. Er fragte: "Als du so alt warst wie ich, wusstest du da schon, was du werden wolltest?" Nein, dachte ich, aber mich hat auch keiner gefragt, was ich wollte. Mir ist erst seit Kurzem klar, dass ich mich für nichts bewusst entschieden habe, nie darüber nachgedacht habe, was ich will. Ich bin in alles so reingerutscht. Es fühlt sich an, als hätte ich mein Leben lang Theater gespielt und würde mich jetzt fragen: Wer bin ich?
Meiner Mutter nehme ich im Grunde wenig übel. Sie hat getan, was sie konnte. Und sie war eine großartige Oma. Ich merke, wie schwer es für mich ist, dass die Leute sie verurteilen, wenn ich diese Geschichte erzähle. Trotzdem weiß ich, dass mein Leben nicht so war, wie es sich gehört. Letztes Jahr beim Schulabschluss meines Ältesten sah ich all die stolzen Eltern und wusste plötzlich, warum ich mein eigenes Abschlusszeugnis nie abgeholt hatte.
Wenn ich meine Mutter gebeten hätte, mich zur Feier zu begleiten, wäre sie bestimmt mitgegangen. Aber dass man um so etwas erst bitten muss…
Meine Mutter ist mittlerweile tot, und ich finde es schade, dass ich von ihr nichts mehr erfahren kann. Als sie krank war, sprachen wir schon manchmal über früher, aber ich habe doch noch eine Menge Fragen. Hat sie je überlegt, wie es für mich war? Hätte sie es vielleicht gern anders gemacht? Die Tante, bei der ich damals manchmal essen war, lebt noch. Mit ihr möchte ich gern einmal sprechen, sobald ich mich dazu in der Lage fühle.
Zum Schutz ihrer Privatsphäre wurde Simones Name geändert.
Hat Ihre eigene Familie ein Geheimnis – und möchten Sie davon erzählen? Mailen Sie uns: redaktion@psychologiebringtdichweiter.de