Auswandern: Sich in der Ferne zu Hause fühlen
Ins Ausland zu ziehen, ist nicht nur sprachlich eine Herausforderung: So fern der Heimat fühlt man sich schon mal einsam und verloren. Aber Auswandern kann auch eine Chance sein, sagt Psychologin und Expat-Coach Benthe Untiedt.
Ein bekannter Spruch sagt "Home is where your heart is". Würden Sie dem zustimmen?
Der Begriff hat im Deutschen ja zwei Bedeutungen: Heimat und Zuhause. Die Heimat ist ein fester Ort oder ein Land. Das Zuhause ist eher ein Gefühl oder Menschen, die mir nahe stehen. Das kann auch ortsungebunden sein und sicherlich an neue Orte mitgenommen werden. Bei der Heimat ist das schwieriger.
Wie nehme ich denn mein Zuhause mit?
Menschen kann ich heute gut mit Technologien wie Skype "mitnehmen". Mit dem Partner auswandern ist natürlich eine besondere Herausforderung, aber das kann auch ein Stück Zuhause sein. Ich sollte aber vorab in mich gehen und mich fragen: Was ist mir überhaupt wichtig, was ist für mich Zuhause? Das ist sehr individuell und kann auch kleine Dinge umfassen, wie ein Fotoalbum, das ich überall mit hinnehme, oder eine bestimmte Tasse.
Und wie finde ich in der Ferne ein neues Zuhause?
Das Wichtigste ist ein Gefühl von Zugehörigkeit. Für Menschen, die ins Ausland gehen, ist das aber zugleich die größte Herausforderung. Manchmal fühlen sie sich auch in ihrer Heimat nicht mehr zugehörig, weil sie schon zu lange weg waren und von dem neuen Land geprägt sind. Zugehörigkeit kann ich mir durch geteilte Interessen oder Hobbys verschaffen, eine Sport- oder Tanzgruppe. Vielleicht probiere ich auch ein neues Hobby aus und entdecke mich dadurch selbst neu. Durch unsere globalisierte Welt gibt es viele Trends ja auch weltweit.
Mein Rat ist zudem: Lassen Sie sich selbst und dem Land Zeit. Wie lange ein Mensch braucht, um anzukommen, kann sehr unterschiedlich sein. Da hilft auch ein Blick zurück: Wie war das damals im Kindergarten, in der Schule, an der Uni? Ich denke, die Menschen kennen sich da selbst ganz gut und wissen, ob sie länger brauchen, um sich irgendwo einzufinden.
Sie sagen: "Wir finden uns selbst, wenn wir weggehen". Wie meinen Sie das?
In einer Studie von Hajo Adam und Kollegen wurde untersucht, inwieweit Auslandsaufenthalte unser Selbstkonzept beeinflussen. Unsere Idee darüber, wer wir sind und was uns ausmacht, wird in einem neuen Umfeld noch mal überprüft: Sind das eigentlich meine Werte, oder sind sie kulturell geprägt? Und wie wichtig sind mir diese Werte? Dadurch kann mein Selbstkonzept klarer werden.
Ein plakatives Beispiel wäre die pünktliche Deutsche, die sich in Spanien an das entspannte Zeitmanagement gewöhnen muss.
Genau. Vielleicht war diese Person immer sehr pünktlich, weil sie das aus Deutschland so kennt und weil Pünktlichkeit dort ein Ausdruck von Wertschätzung ist. Vielleicht irritiert es sie, wenn in Spanien Menschen zu spät kommen, weil sie es respektlos findet. Aber wenn sie lernt, dass Pünktlichkeit in Spanien nichts mit Wertschätzung zu tun hat, kann sie sich fragen, was Pünktlichkeit für sie selbst bedeutet.
Von vertrauten Menschen gespiegelt zu werden, stützt das Selbstbild – aber der Abstand zu eben diesen schärft es auch. Ist das nicht ein Widerspruch?
Sich zugehörig und angenommen zu fühlen sorgt natürlich für Stabilität in unserem Selbstbild. Und treffe ich auf Menschen, die es komisch finden, dass ich immer pünktlich bin, rüttelt das an meinem Selbstkonzept. Das kann zu einer Umwälzung führen. Ähnlich wie in der Pubertät, in der ich viele Dinge noch mal neu in Frage stelle. Aber bin ich nur mit Menschen zusammen, die mich nicht herausfordern, gibt es für mich keinen Entwicklungsspielraum.
Das Leben im Ausland ist daher nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance. Ich werde womöglich resilienter und selbstbewusster. Außerdem weitet sich mein Blick, wenn ich sehe, wie andere Menschen leben. Das muss ich nicht mögen. Aber es festigt auch mein Selbstkonzept, wenn ich weiß, was ich nicht mag.
Wie kann ich mich darauf vorbereiten?
Ins Ausland zu gehen ist nicht leicht. Das zu wissen und nicht zu erwarten, dass immer alles toll und aufregend ist, kann schon helfen. Die größten Risikofaktoren sind einerseits beruflicher Stress und andererseits die Gefahr der Vereinsamung. Das kann zu einer Abwärtsspirale bis hin zur Depression führen. Daher hilft, schon im Vorfeld zu überlegen, was mir in Stresssituationen gut tut. Ich kann mir überlegen, wie ich mich im Job verhalten möchte: Wie kann ich mich einbringen, priorisieren, mich abgrenzen? Und mir schon vorher Möglichkeiten suchen, im neuen Land Anschluss zu finden, beispielsweise über Facebook-Gruppen. Hilfreich ist es auch, vor Ort über die Probleme zu sprechen. Im Job kann ich mich vielleicht nicht so offenbaren, deswegen sind private Kontakte wichtig. Oder man plant das Auswandern von Anfang an mit professioneller Hilfe, so wie ich es anbiete.
Müssen alle Brücken abgebrochen werden, um vollständig anzukommen?
Nein, das wäre sehr radikal. Aber man sollte den Kontakt dosieren und nicht seinen ganzen Tag auf das nächste Skype-Gespräch ausrichten. Sonst kann man nicht offen sein für Neues. Das hat auch viel mit der sogenannten „Fear of Missing Out“ zu tun. Wer die ganze Zeit aufs Smartphone guckt, weil er Angst hat, etwas zu verpassen, kann nirgends ankommen. Ich denke, ein bewusster Konsum der Heimat ist sinnvoll. Wir brauchen unsere Wurzeln, um wachsen zu können.
Benthe Untiedt berät Expats und andere Menschen, die im Ausland leben. Auf ihrer Website bloggt die Diplom-Psychologin über die Herausforderungen und Chancen des Auswanderns. Sie sagt: Wer geht, findet sich selbst. Das weiß sie aus eigener Erfahrung: Die Hamburgerin ist kürzlich nach Kanada gezogen.