"Alle Passagiere waren tot - außer mir"
Annette Herfkens (53) überlebte als Einzige einen Flugzeugabsturz über dem Dschungel von Vietnam. Wie lebt man weiter, wenn nichts mehr ist, wie es mal war?
Endlich ein gemeinsamer Urlaub, das war unser Plan. Seit 13 Jahren schon waren wir, Willem und ich, ein Paar, ich wohnte in Madrid, er arbeitete in Vietnam. Er buchte eine romantische Reise nach Nha Trang, ans südchinesische Meer. Seltsamerweise hatte ich schon vor unserer Abreise kein allzu gutes Gefühl. Als ich sah, wie klein das Flugzeug war, wollte ich erst gar nicht einsteigen.
Kurz vor Nha Trang passierte es. Plötzlich sank das Flugzeug, und das viel zu schnell. Willem sah mich an. "Das fühlt sich nicht gut an", sagte er nervös, und ich sah die Angst in seinen Augen. Ich versuchte, ihn zu beruhigen: "Das ist bloß ein Luftloch, mach dir keine Sorgen." Wir hörten, wie die Motoren hochdrehten, aber das Flugzeug fiel noch tiefer, ruckartig jetzt, mit einem Knall. Jemand schrie. Willem und ich fassten uns an den Händen. Dann wurde alles schwarz.
Als ich aufwachte, lag ein toter Mann auf mir, noch angegurtet in seinem Sitz. Sofort versuchte ich, ihn von mir zu schieben, ohne Erfolg. Ich zog meine Beine unter dem Sitz hervor, dabei riss ich sie mir vollends auf. Ich sah mich um. Die Stille des Dschungels war ohrenbetäubend. Der Erste, den ich erblickte, war Willem. Er lag neben mir, entspannt zurückgelehnt in seinem Sitz, ein Lächeln auf dem Gesicht. Aber tot, das sah ich sofort. Mein geliebter Willem war tot.
Offensichtlich hatte ich einen Schock erlitten, denn in meiner Erinnerung saß ich im nächsten Augenblick neben dem Flugzeug. Auf einer Anhöhe, unter Bäumen. Ich sah die klaffende Wunde an meinem Knie, meinen blutenden Fuß, sogar den Knochen meines Schienbeins. Etwas entfernt hörte ich ein Mädchen stöhnen, und der Vietnamese neben mir fing plötzlich an zu reden. "I am an important person, they will come to save us!" Das beruhigte mich ein klein wenig.
In den nächsten Stunden sah ich, wie der Mann immer schwächer wurde. "Nicht sterben!", flehte ich ihn an, "komm doch, wir suchen Wasser." Mein Mund war so trocken! "Hast du vielleicht ein bisschen Wasser für mich?" Seine Augen fielen zu. "Lass mich nicht allein!", schrie ich. Aber ich sah, wie er aufhörte zu atmen, und dann war auch er tot.
Um mich herum waren alle Geräusche verstummt. Keiner der anderen Passagiere bewegte sich mehr, alle waren tot. Acht Tage lag ich allein im Dschungel. Schwer verletzt, mit zwei kollabierten Lungenflügeln, mit gebrochenen Beinen und Hüften. Nicht an Willem denken, nicht an Willem denken, sagte ich mir ununterbrochen.
Ich überlebte, indem ich mich auf das konzentrierte, was ich vor mir sah. Indem ich im Hier und Jetzt blieb – und nicht zu den Maden auf dem Körper des Mannes neben mir schaute. Daran, dass ich gerettet werden könnte, dachte ich nicht. Ich versuchte, die Schönheit des Urwalds zu sehen, die Bäume, Pflanzen, Blätter... Das half mir, ruhig zu bleiben und keine Angst zu haben.
Ich war eine Muster-Überlebende. Ich machte einen Plan, teilte diesen in kleine, machbare Schritte ein und lobte mich selbst, wenn ich wieder ein Ziel erreicht hatte. Aus dem Isolierschaum des Flügels formte ich Halbkugeln, mit denen ich Regenwasser auffing, und alle drei Stunden erlaubte ich mir einen Schluck Wasser. Und ich gab mich dem Dschungel hin. Es fühlte sich an, als würde ich langsam mit meiner Umgebung verschmelzen; mit der Schönheit, dem Tod, dem Verfall, der Wiedergeburt ... Als läge ich in einem Bett aus Liebe. Ein Gefühl, das ich in diesem Augenblick für immer festhalten wollte.
Am Ende des achten Tages kam endlich der Rettungstrupp. Ich musste auf der Passagierliste meinen Namen zeigen. Und danach bekam ich Wasser, aus einer eckigen, hellblauen Flasche. Diesen Schluck werde ich niemals vergessen, damit wird kein Champagner je konkurrieren können. Einen Tag blieb ich in einem örtlichen Krankenhaus, danach wurde ich nach Ho-Chi-Minh-Stadt geflogen. Nach Tagen sah ich endlich meine Freunde und meine Familie. Erst als meine Mutter ins Zimmer kam, konnte ich loslassen. Endlich weinte ich. Und danach habe ich noch sehr viel mehr geweint. Natürlich hat es lange gedauert, bis ich wieder ganz gesund war. Es brauchte viele Operationen, am Kiefer, an meinen Hüften ... Mein Bein konnte zum Glück noch so eben gerettet werden. Aber danach musste ich weitermachen, allein. Ich kehrte nach Madrid zurück und ging wieder zur Arbeit. Natürlich war ich sehr traurig. Ich durchlief alle Stadien der Trauer, die laut Psychologen dazugehören. So wie jeder, der seinen Partner verliert. Irgendwann konnte ich meine Situation akzeptieren.
Meine Freunde sagen, ich sei noch derselbe Mensch, und in gewisser Weise stimmt das auch. Ich war schon vorher sehr offen, konnte mich selbst gut einschätzen. Von meiner "mystischen Erfahrung" im Dschungel habe ich niemandem erzählt. Diese aber hat mein Leben in zwei Hälften geteilt: in die vor und die nach dem Unglück. Ich lebe heute viel mehr im Moment, mache mir weniger schnell Sorgen. Brauche ich ein Gefühl der Sicherheit, kehre ich in Gedanken in den Dschungel zurück.
Dass ich versuchte, die Schönheit des Dschungels zu sehen, half mir zu überleben
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Ich konzentriere mich auf das, was passiert, nicht darauf, wie mein Leben hätte sein können. Ich merke das auch daran, wie ich mit Maxi umgehe, meinem autistischen Sohn. Von Anfang an war ich offen für das, was für ihn realistisch ist, statt mich an das zu klammern, was ich vielleicht für ihn gewollt hätte. Abschlussfeiern, Fußballvereine, den Besuch einer Universität habe ich mir längst abgeschminkt. Ich akzeptiere Maxi nicht nur so, wie er ist, sondern erfreue mich wirklich an ihm. Ich bin froh über das Leben, das ich jetzt habe, mit meinem Mann Jaime und unseren zwei Kindern. Ich weiß, dass Therapie ein sicherer Weg sein kann, schmerzhafte Erinnerungen zu verarbeiten, aber für mich war der Dschungel dieser sichere Rahmen. Der sicherste von allen. Ich hatte die Wahl, meinen Blick von den Maden auf das Schöne zu lenken, und das habe ich getan. So habe ich überlebt.
Annette Herfkens schrieb über ihr Erlebnis das Buch Der Tropfen, der mich zur Quelle führte, Bastei Lübbe, 2016.
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Annettes Geschichte ist in Ausgabe 6/2016 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das komplette Heft können Sie im Shop nachbestellen.