Wie schaffe ich es, loszulassen?
Psychologin Sandra Konrad schreibt in ihrer Kolumne über das Leben aus Therapeutensicht. Diesmal: Ihre Schwiegereltern lösen ihr altes Leben auf. Gedanken übers Abschiednehmen und Loslassen
Meine Schwiegereltern ziehen ins Altersheim. Sie sind knapp unter 80, machen täglich Sport und Kreuzworträtsel, kümmern sich aufopferungsvoll um ihre Enkel (und Enkelhunde) und pflegen ihren großen Garten.
„Ihr seid doch noch topfit!“, sagen wir.
„Wir wollen vorsorgen und euch nicht zur Last fallen“, sagen sie.
Während unsere Freunde die Haushalte ihrer verstorbenen Eltern sortieren und einen Crashkurs im Loslassen machen, holen wir an einem Sonntagnachmittag altes Spielzeug meines Mannes ab. Während unsere Freunde wochenlang Ordner, Kartons, Schubladen sichten und mühsam durch die Vergangenheit der Eltern waten, dürfen wir zwischen einem Spaziergang und Kaffeetrinken auswählen, welche Erbstücke wir behalten möchten. Dann ist der Keller leer, die Erinnerungen sind verteilt, der Umzug in das wahrscheinlich letzte Zuhause steht an.
Bei der Verabschiedung muss meine Schwiegermutter weinen und schickt mich weg. Ich bleibe und halte sie ein bisschen fest. Mein Mann nimmt sein Spielzeug und die Traurigkeit mit nach Hause.
Wenn die Eltern alt werden, werden wir älter. Wenn die Eltern sterben, werden wir erwachsen. Da ist dann niemand mehr, der uns sagen könnte, was richtig oder falsch ist, niemand, den wir enttäuschen oder stolz machen können. Das macht frei, konfrontiert uns aber auch mit der eigenen Endlichkeit. Wir sind die nächsten, die irgendwann ihr Leben ordnen, ausmisten und abtreten müssen.
„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne“, so Hermann Hesse, aber so einfach ist das nun mal nicht. Vor allem bei Abschieden, die unausweichlich und für immer sind, zum Beispiel wenn eine Ehe geschieden wird, wenn das Kind nach 19 Jahren auszieht oder wenn jemand, der immer da war, plötzlich nicht mehr am Leben ist.
Abschiednehmen ist schwer und häufig schmerzhaft – aber es ist auch ein aktiver Akt, den wir gestalten können. Wenn wir aus einem Ort wegziehen, schmeißen wir eine Abschiedsparty. Auf Beerdigungen gedenken wir der Toten. Und ich denke immer wieder gern an das Paar, das nach 25 Jahren Beziehung statt zur Silberhochzeit zur Silbertrennung einlud: In Dankbarkeit nahmen sie Abschied von ihrer Ehe und feierten ein Fest mit allen, die sie begleitet hatten.
So gesehen haben meine Schwiegereltern alles richtig gemacht: Sie haben sich bewusst verabschiedet von dem, was nicht mehr passte, und sind selbstbestimmt in die nächste Lebensphase getreten. Als wir sie das erste Mal in ihrem neuen Domizil besuchen, zeigen sie uns stolz, wie gut sie sich schon eingelebt haben, und teilen uns fröhlich mit: „Jetzt, wo wir keinen Garten mehr haben, können wir endlich die lange Weltreise machen, von der wir immer geträumt haben.“
Hermann Hesse wusste doch, wovon er sprach, als er schrieb: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“
Dr. Sandra Konrad ist Paar- und Familientherapeutin in Hamburg und schreibt in PSYCHOLOGIE bringt dich weiter eine regelmäßige Kolumne. In ihrem dritten Buch "Das beherrschte Geschlecht" (Piper) bezieht die Psychologin klar Stellung: Sie entwirft ein vielschichtiges „Porträt“ der weiblichen Sexualität, wie sie durch die Gesellschaft bestimmt wird und wie das bis heute Gleichberechtigung behindert – durch ein falsches Schönheits- und Sexverständnis, männliche Machtausübung und Frauen, die sich dem unterwerfen.