Warum kann ich mich so schwer entscheiden?
Psychologin Sandra Konrad schreibt in ihrer Kolumne über das Leben aus Therapeutensicht. Diesmal: Eine Frau zwischen zwei Männern. Oder warum keine Entscheidung manchmal auch eine Entscheidung ist
Tina sitzt vor mir und weint. Sie ist verlobt und hat sich in einen anderen Mann verliebt. „Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll.“ „Wer sagt, dass Sie jetzt eine Entscheidung treffen müssen?“, frage ich. „Ich! Das ist doch kein Zustand so. Ich liebe zwei Männer, ich schlafe mit zwei Männern, ich pendel von einem zum anderen.“
„Das hört sich doch gar nicht so schlecht an, im Gegenteil, es klingt ganz reizvoll“, biete ich eine neue Sichtweise an. „Sie sind ja noch unmoralischer als ich!“, sagt sie, lacht und weint zugleich und entspannt sich, weil sie spürt, dass ich sie nicht bewerte. Das tut sie selbst schließlich schon erbarmungslos. In jeder Sitzung hadert sie mit sich, dass sie es immer noch nicht geschafft hat, sich zu entscheiden.
„Aber Sie haben sich doch entschieden“, stelle ich irgendwann fest, „nämlich, derzeit keine Entscheidung zu treffen.“
Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung. Die Entscheidung, sich Zeit zu lassen. Hinzufühlen. Zu überlegen. Bis ganz organisch eine Entscheidung getroffen wird. Im Innen. Oder im Außen. Denn mitunter lösen sich solche Dreierkonstellationen von selbst. Einer der beiden Partner kommt dahinter und trennt sich. Einer übt Druck aus, was zu einer Entscheidung führt. Oder alle stellen fest, dass sie mit dieser Form der Beziehung durchaus leben können.
„Ich hab doch Verantwortung für die beiden. Warum tue ich ihnen das an?“, klagt Tina sich selbst an. Da Moral allein ihr Dilemma nicht lösen wird, gebe ich ihr folgende Aufgabe: „Übernehmen Sie bitte erst einmal Verantwortung für Ihre eigenen Gefühle.“ Denn solange Tina ihre eigenen Gefühle nicht ernst nimmt, kann sie die Situation nicht verändern. Und solange sie die Situation nicht verändert, muss sie nicht fühlen, dass keiner der beiden Männer sie glücklich macht. Tina hat so große Angst vorm Alleinsein, dass sie sich lieber mit zwei Partnern gleichzeitig ablenkt und dabei die innere Leere mit Schuldgefühlen füttert. Sie hat Angst, sich selbst zu begegnen und nicht zu mögen, was sie dann sieht. „Ich weiß gar nicht, wer ich bin!“, sagt sie verzweifelt, und ich finde, es ist Zeit, das herauszufinden.
Auf einer langen therapeutischen Reise stellen wir fest, dass Tina nie gelernt hat, auf ihre Gefühle zu achten, sie wichtig zu nehmen, einzuordnen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Funktionieren war wichtiger als fühlen, etwas darzustellen wichtiger, als zu sein. Schritt für Schritt nähert sie sich ihren alten Wunden, ihren Enttäuschungen, ihren Bedürfnissen und ihren Träumen.
Und dann, nach vielen, vielen Sitzungen, trennt Tina sich. Erst vom einen, dann vom anderen. Sie ist traurig, aber auch erleichtert. Sie vermisst die Zweisamkeit, aber sie genießt auch das Alleinsein und eine nie zuvor empfundene Lebensfreude. Sie spürt, dass sie auf dem richtigen Weg ist, und ich freue mich für sie, denn sie hat die wichtigste aller Entscheidungen getroffen: Sie übernimmt Verantwortung für ihre eigenen Gefühle. //
Dr. Sandra Konrad ist Paar- und Familientherapeutin in Hamburg und schreibt in PSYCHOLOGIE bringt dich weiter eine regelmäßige Kolumne. In ihrem dritten Buch "Das beherrschte Geschlecht" (Piper, 12 Euro) bezieht die Psychologin klar Stellung: Sie entwirft ein vielschichtiges „Porträt“ der weiblichen Sexualität, wie sie durch die Gesellschaft bestimmt wird und wie das bis heute Gleichberechtigung behindert – durch ein falsches Schönheits- und Sexverständnis, männliche Machtausübung und Frauen, die sich dem unterwerfen.