Unser weiser Körper
Wie können wir auf unseren Körper hören, wenn wir immerzu unserem Verstand hinterherlaufen? Ein Plädoyer für das Fühlen
Einst war das Leben leicht. Als Baby wussten wir genau, was wir brauchten. Bei Hunger weinten wir und wurden gefüttert. Waren wir ängstlich oder unruhig, ließen wir uns an einer vertrauten Schulter trösten. Waren wir müde, schliefen wir ein. Vielleicht war es frustrierend, dass unsere Eltern nicht immer gleich verstanden, was wir meinten, doch wir hatten ein untrügliches Gefühl dafür, was wir brauchten. Lange bevor wir denken lernten, konnten wir schon fühlen.
Zum Überleben ist Fühlen etwas Wesentliches. Aber im erwachsenen Leben hat meist der Verstand das Sagen. Das ist praktisch, wenn man ein Steuerformular ausfüllen oder eine Waschmaschine kaufen möchte. Aber es führt auch dazu, dass wir uns selbst überholen, Dinge tun, bei denen wir uns nicht wirklich gut fühlen und abends mit einem gewissen Gefühl von Unmut ins Bett gehen. Oder schlimmer: mit einem Burn-out oder chronischen Nackenschmerzen beim Arzt landen. "Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut", sagen wir dann, als wäre unser "Ich" etwas ganz anderes als unser Körper. Offensichtlich halten wir unseren Körper für einen Gebrauchs-gegenstand, in dem wir stecken, eine Maschine, die in der Regel prima funktioniert, uns jedoch hin und wieder im Stich lässt. Und dann muss der Defekt an diesem Ding schnellstmöglich behoben werden, damit es wieder macht, was es soll.
Unterdrückte Emotionen
Was ist mit dem Fühlen passiert? Die Sicht auf unsere Emotionen ist oft getrübt, sagt der amerikanische Psychologe Ronald Frederick in seinem Buch Living Like You Mean It. Häufig unterdrücken wir unsere Gefühle, ohne dass es uns bewusst ist. Bei aufsteigendem Kummer zum Beispiel tun wir alles, um ihn zu verbergen, wechseln das Thema, schauen weg, suchen Ablenkung in Arbeit oder Sport, muntern uns mit shoppen oder einem Schokoriegel auf. Und das hinterlässt Spuren in unserem Körper. "Bei der Arbeit oder im Supermarkt kann es gut oder auch notwendig sein, dass wir den Kummer nicht sofort zulassen", schreibt Frederick. "Aber solche Abwehrmuster werden problematisch, wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind. Oft sind sie so normal geworden, dass wir sie fast automatisch anwenden. Womöglich fühlen wir uns hin und wieder unwohl oder nervös, doch wir haben keine Ahnung, woran es liegen mag. Dann sind wir intensiv damit beschäftigt, uns wieder zu beruhigen, statt einmal zu schauen, was uns eigentlich unruhig gemacht hat. Noch häufiger kommt es vor, dass Menschen so weit von sich selbst entfernt sind, dass ihnen nicht einmal klar ist, dass sie sich nicht optimal fühlen."
Dabei ist es gerade wichtig, dass wir uns wohlfühlen. Emotionen sind ein findiges Signalsystem der Natur, in Millionen von Jahren entwickelt, um uns beim Überleben zu helfen. Das Gehirn scannt täglich einen ungeheuren Informationsstrom, vergleicht ihn mit früheren Erfahrungen und bringt uns bewusst oder unbewusst zum Handeln. Das geschieht unter anderem mithilfe von Emotionen: Sie verdeutlichen uns, dass etwas passiert, was für unser Wohlbefinden wichtig ist, und schieben uns in eine bestimmte Richtung. Manchmal buchstäblich, zum Beispiel wenn wir vor einer dicken Spinne zurückschrecken, noch bevor uns so richtig bewusst ist, dass da eine Spinne läuft. So bringt Angst uns dazu, aus einer bestimmten Situation zu entkommen. Freude sorgt dafür, dass wir uns öffnen, Liebe dafür, dass wir körperlich und emotional ganz nah beim anderen sein möchten. Aus Wut treten wir für unsere Bedürfnisse ein, Schuldgefühl bringt uns dazu, Bindungen wiederherzustellen. Trauer zwingt zum Innehalten bei einem Verlust, der Suche nach Unterstützung und nötigt uns, zu tun, was wir in dem Moment brauchen. Gefühle funktionieren also wie ein Kompass. Sie verleihen dem Leben Farbe, machen uns bewusst, was wir wirklich wollen und was uns wichtig ist. Sie sagen viel darüber aus, wer wir als Mensch sind: Was wir als angenehm empfinden, was uns glücklich, böse oder traurig macht, was unser Herz schneller schlagen lässt. Der amerikanische Neuropsychologe Joseph LeDoux formuliert das so: "Emotionen bestimmen unseren Kurs von Augenblick zu Augenblick, aber sie weisen auch den Weg zu langfristigen Zielen."
Aufmerksam Spüren
Auch der mittlerweile verstorbene amerikanische Philosoph und Psychologe Eugene Gendlin entdeckte, dass Gefühle wichtige Erkenntnisse bringen können. Er fragte sich, warum Psychotherapie bei manchen Menschen gut und bei anderen weniger gut funktioniert. Auf der Suche nach einer Antwort schaute er sich unzählige aufgezeichnete Sitzungen bis in alle Einzelheiten an. Nach einiger Zeit sah er immer deutlicher, dass der Erfolg einer Therapie weniger von dem abhing, was der Therapeut tat, sondern von dem, was die Klienten selbst machten. Menschen, die in der Therapie schnelle Fortschritte zeigten, pausierten häufig. Sie konnten mitten in einem Satz innehalten, um zu spüren, was in ihnen vorging, oder über noch unklare Dinge nachzudenken. Erst danach versuchten sie, Worte dafür zu finden. Meistens begann es mit einem vagen, undefinierten Gefühl, das sich nur schwer beschreiben ließ. Aber wenn sich die
Klienten auf dieses unbestimmte Gefühl konzentrierten, ihm aufmerksam und respektvoll begegneten, wurde immer klarer, worauf es verwies. So erhielten sie neue Erkenntnisse über sich selbst, es taten sich unerwartete Möglichkeiten auf. Was diese Klienten machten, nannte Gendlin Focusing: offen und aufmerksam zu sein für etwas, das man direkt erfährt, ohne Worte.
Forschungsauftrag
Nehmen Sie sich beispielsweise einmal kurz die Zeit, an eine Freundschaft zu denken, die Ihnen sehr wichtig ist. Außer Gedanken löst das wahrscheinlich irgendwo in Ihrer Körpermitte auch ein Gefühl aus: ein ganz spezifisches, aber undefiniertes, alles umfassendes Gefühl zu dieser Freundschaft. Und jetzt denken Sie einmal an jemanden, mit dem Sie eher Schwierigkeiten haben. Das löst ebenfalls ein spezifisches Gefühl aus, das aber anders ist als das erste. Gendlin beschrieb diese Gefühle als Felt Senses: Bedeutungen, die wir in unserem Körper spüren, eine globale Zusammenfassung aus Erfahrungen der Vergangenheit, der Gegenwart, der anderen Person, unseren Beziehungen, körperlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit dieser Person und noch vielem mehr.
Aus dem, was Gendlin bei den erfolgreichen Klienten sah, leitete er nachvollziehbare Schritte ab, damit die Klienten, die ihre Gefühle weniger gut erreichten, darauf zugreifen konnten. Kurz zusammengefasst geht es darum, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten und sich selbst Fragen zu stellen wie: Wie geht es mir? Was brauche ich in diesem Moment? Was macht diese Situation mit mir? Genau wie bei den Gedanken an den guten Freund oder die gute Freundin und an die Person, mit der Sie Schwierigkeiten haben, wird Ihr Körper da-rauf reagieren. Die Kunst liegt darin, bei diesem Gefühl zu verweilen, und zwar respektvoll und akzeptierend. Denn sobald Sie rationale Erklärungen abgeben oder urteilende Gedanken hegen (Ist dieses Gefühl überhaupt berechtigt?), zieht es sich wieder zurück. Danach erforschen Sie es vorsichtig, indem Sie ein Wort, ein Bild oder eine Assoziation dazu suchen. Sobald Sie ein Wort oder Bild gefunden haben, das der Bedeutung wirklich nahekommt, werden Sie es in Ihrem Körper merken. Wie bei einem Jackpot, bei dem das Geld ins Rollen kommt, verlagern sich Ihre Empfindungen, brechen sich Bahn, etwa in Form von Erleichterung, Lachen oder Weinen.
Tiefe Gefühle
Focusing bringt manchmal Selbsterkenntnisse, die sich der Verstand gar nicht ausdenken kann. Das erfuhr die Psychotherapeutin und Professorin für klinische Psychologie Mia Leijssen am eigenen Leib, als sie an einem Focusing-Workshop von Eugene Gendlin teilnahm. Bei einer Demonstrationssitzung durfte sie auf die Bühne und sich als Klientin zur Verfügung stellen. Seit der Geburt ihrer Tochter vor drei Jahren war sie müde und hatte depressive Gefühle. Rational leicht zu erklären: Das lag natürlich am Schlafmangel und an dem vielen Trubel. "Gendlin fragte mich, was ich im Zentrum meines Körpers spürte. Zu meiner großen Überraschung verkrampfte sich etwas in meinem Bauch. ‚Eine zusammenkrampfende Erfahrung also‘, wiederholte Gendlin. Mit diesen wenigen Worten half er mir, meine Aufmerksamkeit bei diesem ersten vagen Gefühl zu halten."
Danach, fährt Leijssen fort, stiegen plötzlich unerwartete Bilder in ihr auf, wie das ihrer gerade geborenen Tochter, die unmittelbar nach der Geburt weggetragen wurde und aus ihrem Blickfeld verschwand, noch bevor sie ihr Kind gehört oder berührt hatte. Und das Bild von sich selbst als wütende Löwin, die am nächsten Tag hinter Glas ein Kind liegen sah, verkabelt mit einer Maschine, außerhalb ihrer Reichweite. "Bilder, die mein Verstand offenbar vollkommen gelöscht hatte, die jedoch mit heftigen Gefühlen einhergingen: der überwältigende Schmerz, das Kind abgeben zu müssen, und die unbeherrschbare Wut, machtlos dabei zusehen zu müssen." Ihr Körper, versteht sie jetzt, hatte die unverarbeiteten Erfahrungen bewahrt und machte sie in Form von Müdigkeit und Trübsinn darauf aufmerksam. "Bis dahin war es mir nicht gelungen, mit den tieferen Schichten meines Erlebens Kontakt aufzunehmen. Aber in Gendlins fürsorglicher Anwesenheit fühlte sich mein Körper offenbar so sicher, dass ich eingefrorene Erfahrungen auftauen lassen konnte. Als würde sich eine Energiezentrale öffnen, und als dürften alle Gefühle wieder mit voller Kraft fließen." Seit dieser Erfahrung ist Focusing ein großer Bestandteil von Leijssens eigener Therapie und Forschung.
Da stimmt was nicht
Felt Sense ist nicht das Gleiche wie eine Emotion, obwohl es Emotionen beinhalten kann, erklärt Leijssen. "Beim Felt Sense geht es darum, wie eine Situation oder ein Problem in Ihrem Körper mitschwingt. Wenn Ihr Partner oder Ihre Partnerin Sie beim Frühstück fröhlich anlacht, führt das zu einer fröhlichen Resonanz. Eine blöde Bemerkung hinterlässt eine unangenehme Resonanz. Sie spüren es auch deutlich, wenn plötzlich ein Tier vor Ihrem Auto auftaucht. Ihr erster Reflex ist eine körperliche Resonanz, erst danach drücken Sie Ihre Empfindungen wie Angst und Erschrecken in Worten aus. Die meisten Erfahrungen in unserem Alltag sind schleichender, nicht so markant wie bei einem Tier vor dem Auto. Aber eine ständige Konfliktsituation schwingt auch in Ihrem Körper mit."
Aber egal ob Emotionen oder Felt Senses – die Essenz ist die gleiche. Wir spüren sie in unserem Körper in Form von Energie, Empfindungen und körperlichen Reaktionen. Sie verdeutlichen uns, dass etwas los ist, was wichtig sein kann – und bitten erst dann nicht mehr um Aufmerksamkeit, wenn wir sie bemerken und auf sie hören. "Tun Sie das nicht, häufen sie sich an, wodurch Ihr Körper sich immer mehr verkrampft. Wenn Sie Ihre Empfindungen täglich erkennen, reinigt das Ihren Körper. Das ist wie mit dem Schmutz zu Hause: Es ist leichter, jeden Tag mal eben kurz etwas sauber zu machen", sagt Leijssen.
Frederick beschreibt es treffend: "Gefühle sind wie ein Telefon, das so lange klingelt, bis Sie das Gespräch annehmen. Sie kommen wieder, sie bitten immer weiter um Aufmerksamkeit, und sie wollen gehört werden. Das liegt nun einmal in der Natur unserer Gefühle. Manchmal tauchen sie auf wie eine vage Notiz, dass etwas nicht stimmt. Wie Grübeln, kleine Irritationen, Unruhe, Nervosität oder wie depressive Beschwerden."
Gefühlen bewusst Aufmerksamkeit zu schenken kann eine große Wirkung haben. Wenn Frederick seinen Klienten beibrachte, sich ihren Emotionen mehr zu öffnen, sank ihr Angstniveau. "Sie blockierten nicht mehr, sondern bekamen stattdessen ein neues, energiegeladenes Gefühl. Sie standen mit dem in Kontakt, was sie wirklich wollten, und konnten das auch ausdrücken, eine Wahrheit, an der sie nicht mehr zweifelten. Und weil sie sich ausdrückten und ihre eigene Stimme hören ließen, verbesserten sich ihre Beziehungen." Auch Focusing ist erwiesenermaßen effektiv. Je besser die Klienten fokussieren können, desto mehr bringt ihnen eine Therapie, zeigen Dutzende Studien. Auch bei Älteren, Menschen mit gesundheitlichen Problemen, Gefangenen und psychotischen Patienten zeigt Focusing positive Wirkungen. Und vielleicht noch das Wichtigste: Es ist erwiesen, dass diese Fähigkeit erlernbar ist. //
Quellen u. a.: A. Cornell, The focusing technique: Confirmatory knowing through the body, in: H. Palmer (Hrsg.): Inner Knowing, Tarcher/Putnam, 1998 / R. Frederick, Living Like You Mean It: Use the Wisdom and Power of Your Emotions to Get the Life You Really Want, Jossey-Bass, 2009
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