Und es schmerzt und schmerzt und schmerzt
Chronische Schmerzen sieht man demjeningen, der sie hat, in der Regel nicht an. Doch gerade junge Menschen werfen sie oft aus der Bahn. Woher der Schmerz kommt und wie man lernen kann, damit zu leben
Am Anfang steht zum Beispiel oft ein Schleudertrauma oder ein Bandscheibenvorfall, von dem man sich nicht vollständig erholt. Der erste akute Schmerz verwandelt sich in einen bleibenden. Hält er mehr als drei Monate an, redet man von chronischen Schmerzen. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein, von Rheuma bis zu Nervenschmerzen, und die Ursache ist nicht immer klar. Viele Schmerzpatienten haben einen langen Leidensweg und konsultieren zahlreiche Ärzte und Spezialisten, die Medikamente und Behandlungen wie Physiotherapie verschreiben. Leider reicht das oft nicht.
Als Psychologin in einem Rehabilitationszentrum sieht Ilse de Jong, wie sehr chronische Schmerzen einschränken können. „Das gilt insbesondere für junge Menschen. Sie stehen mitten im Leben, sind sehr aktiv und nicht gewohnt, dass ihr Körper Probleme macht. Müssen sie ihr Studium oder den Job wegen der Schmerzen aufgeben, ist das sehr heftig für sie. Und sieht man ihnen nichts an, müssen sie sich auch noch gegen das Unverständnis von außen wappnen.“
Bei akuten Schmerzen sendet das Gehirn ein Alarmsignal. Dieses fungiert als Warnung wie: Nimm die Hand von der heißen Herdplatte! Chronische Schmerzen können durch Gewebe- oder Nervenschäden ausgelöst werden, etwa nach Unfällen, Krankheiten oder chirurgischen Eingriffen. Das Nervensystem generiert dadurch eigenständig Reize, die als Schmerz verarbeitet werden. Diese Schmerzen werden am Laufen gehalten und können sich sogar verschlimmern, auch wenn nicht immer ein erkennbarer körperlicher Grund vorliegt. De Jong: „Das Gehirn von Menschen, die über längere Zeit Schmerzen haben, ist in Aufruhr. Ihr ganzes System ist angespannt und reagiert früher und heftiger als üblich mit Alarmsignalen.“
Es sind die Gedanken und Gefühle rund um den Schmerz, die im Alltag oft am meisten beeinträchtigen, meint de Jong. So werden Betroffene beispielsweise wütend, weil sie sich eingeschränkt fühlen, und überschreiten ihre Grenzen, indem sie trotzdem weiterhin alles machen. Andere werden traurig und gehen kaum noch aus dem Haus. Und es gibt Menschen, die durch die Schmerzen ängstlich werden, die Aktivitäten vermeiden, weil sie befürchten, ihren Körper zu schädigen. Das alles sind wenig hilfreiche Reaktionsmuster, sagt de Jong.
Sobald man Aktivitäten vermeidet, wie arbeiten, lernen, Sport und Freunde treffen, gerät man in einen Teufelskreis, in dem sich alles nur noch um den Schmerz dreht. „Während unserer Behandlung, die oft auf kognitiver Verhaltenstherapie basiert, erklären wir genau, wie Schmerzen funktionieren“, sagt de Jong. „Wir nehmen Gedanken, die nicht konstruktiv sind, unter die Lupe, wie etwa diesen: Wenn ich Sport mache, nehmen meine Schmerzen zu. Wir lehren Schmerzpatienten, anders zu denken: Ich schade mir damit nicht, innerhalb meiner körperlichen Grenzen darf ich Sport treiben. Schließlich ist der Körper dazu da, sich zu bewegen. Außerdem gibt er dem Gehirn so zu verstehen, dass es nicht nötig ist, bei körperlicher Bewegung Alarm zu schlagen.“
Das Forschungsteam um Professorin Mariëlle Goossens an der Universität Maastricht hat einen ganz ähnlichen Ansatz entwickelt: die Exposure-in-Vivo-Methode. Während dieser Behandlung werden Menschen mit chronischen Schmerzen zu Aktivitäten angehalten, vor denen sie Angst haben. Goossens: „Selbst wenn sie keine körperlichen Schäden haben, zeigt es sich, dass Menschen Bewegungen nicht mehr ausführen, die sie als bedrohlich empfinden. Indem sie sich immer wieder doch dazu überwinden, prüfen sie, ob ihre negativen Erwartungen tatsächlich erfüllt werden. Stellen sie dann fest, dass in ihrem Körper nichts schiefgeht, sinkt die Angst vor dem Schmerz.“
Der Schmerz selbst verringert sich womöglich nicht, aber ihm wird eine andere Bedeutung beigemessen. Nicht: „Da läuft etwas völlig schief“, sondern: „Der Alarm in meinem Gehirn ist zu empfindlich eingestellt“. Indem man diese negativen Gedanken loslässt, rückt der Schmerz mehr in den Hintergrund, und die Negativspirale kann durchbrochen werden. Der Schmerzpatient kann wieder studieren oder zur Arbeit gehen. Aber auch die Möglichkeit, mal wieder kleine Dinge zu unternehmen, einen Strandspaziergang oder eine Party, hilft, die Freude am Leben zurückzubringen. //
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Junge Menschen erzählen von ihren chronischen Schmerzen in Ausgabe 5/2019 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter. Das ganze Heft können Sie am Kiosk kaufen oder direkt im Shop bestellen.