"Quält Euch doch bitte nicht so mit Diäten!"
Denn sie bringen vor allem eins: schlechte Laune. Hinzu kommt, dass es nicht funktioniert, sich alles zu verbieten. Professorin Ingrid Steenhuis weiß, wie man dauerhaft Gewicht verliert – durch kleine Verhaltensänderungen
Abnehmen durch striktes Diäthalten? Energieverschwendung, sagt Ingrid Steenhuis, Gesundheitswissenschaftlerin und Professorin für Prävention in Amsterdam. Von allen Leuten, die mittels Diät abnehmen, haben 80 Prozent nach einem Jahr schon wieder zugenommen. Nach einiger Zeit wiegen viele sogar mehr als vorher. "Das schadet der Gesundheit und dem Selbstbild." Steenhuis zufolge achten wir heutzutage zwar besser darauf, was wir essen, jedoch kaum darauf, wie viel wir zu uns nehmen. Maß halten, Portionen kontrollieren: Darum geht es. "Dann kann man weiterhin essen, was einem schmeckt."
Aber wie gelingt einem das in einer Welt voller Überfluss, die den ganzen Tag zum Essen verleitet? Das erforscht Steenhuis seit mehr als 20 Jahren. Der Verlockung, übermäßig viel zu verzehren, kann man ihrer Ansicht nach viel leichter widerstehen, wenn man sich der ungesunden Automatismen des eigenen Essverhaltens bewusst ist. Smartsize Me, ihre Abnehm-Methode, ist wissenschaftlich fundiert. "Essen wird uns immer in Versuchung bringen, aber wir brauchen dieser nicht immer zu erliegen."
Sie sind schlank. Haben Sie keine Veranlagung zum Dickwerden oder sind Sie streng mit sich selbst?
Ich wog schon mal zehn Kilo mehr. Zwischen meinem 30. und 40. Lebensjahr habe ich jedes Jahr ein Kilo zugenommen. Irgendwann dachte ich: Das geht in die falsche Richtung. Ich fing an, sehr bewusst darauf zu achten, was, wie viel und wann ich aß. Ich liebe Süßes, "schuld" an meinem Gewicht waren vor allem Schokolade und Kekse zwischen den Mahlzeiten. Die esse ich immer noch, aber viel weniger. So bin ich allmählich wieder auf mein früheres Gewicht gekommen.
Eine Diät haben Sie nie in Erwägung gezogen?
Nein, das könnte ich nicht gut, das würde mich zu viel Selbstbeherrschung kosten. Wenn ich um mich herum Leute sehe, die sich in ihre zigste Diät stürzen, würde ich am liebsten rufen: Nun quält euch doch nicht so! So eine Crash-Diät zum Beispiel, bei der man nur ganz wenig essen darf, die macht einen vor allem müde und schlecht gelaunt. Ich verstehe sehr gut, dass man das nach einer Weile nicht mehr aushält. Und finde es auch schade, wenn Leute leckeres Essen nicht mehr genießen können.
Maß halten, darum geht es Ihrer Meinung nach. Aber das fällt schwer, wo Essen so leicht verfügbar ist.
Das stimmt, und die Portionen sind immer größer geworden, vor allem seit den 80er-Jahren. Als Coca-Cola bei uns eingeführt wurde, befand sich in einer Familienflasche ein Dreiviertelliter. Heutzutage kauft man Flaschen von einem, anderthalb oder zwei Litern. Früher war eine Tüte Wokkels Chips mit 60 Gramm gefüllt, jetzt sind es 115. Ein 100 Gramm schweres Steak findet man im Supermarkt kaum noch, meist sind es mindestens 140 Gramm. Scheibenkäse wog in den 80er-Jahren 24 Gramm pro Scheibe, heute bringt eine Scheibe 31 Gramm auf die Waage. Und auch die Portionen in Restaurants sind viel größer, als es für eine gesunde Portion empfohlen wird. Hinzu kommt, dass man umgerechnet für eine größere Portion grundsätzlich weniger zahlt.
Das ist doch vorteilhaft, mehr Essen für weniger Geld.
Für den Geldbeutel ja, aber so holt man sich fast automatisch mehr Essen ins Haus und verbraucht auch mehr. Außerdem können wir so nicht mehr einschätzen, was eine normale, gesunde Portion ist. Wir neigen nämlich dazu, uns für die mittlere Größe zu entscheiden. Da aber immer größere Einheiten hinzukommen, sind auch die mittleren größer geworden, und wir betrachten sie allmählich als normale Größen: die Cola in der Anderthalb-Liter-Flasche oder den mittelgroßen Kaffee, der vor zehn Jahren noch als großer Kaffee galt. Und je größer die Portion, die einem vorgesetzt wird, desto mehr isst oder trinkt man.
Wenn es zu viel ist, lasse ich den Rest stehen. Ich spüre doch, wenn ich genug gegessen habe.
Das glauben fast alle. Aber wenn man einer Person eine doppelte Portion hinstellt, isst diese im Durchschnitt 35 Prozent mehr. Das belegen mehrere Studien. Das gilt sowohl für warme Mahlzeiten als auch für Getränke und abgepackte Snacks.
Wir essen also, was vor unserer Nase steht, ohne uns zu fragen, ob wir wirklich Appetit haben?
Wir haben gelernt, unseren Teller leer zu essen. Aber es hat auch mit den Hinweisen, Cues genannt, zu tun, mit denen unser Gehirn Sättigung signalisiert. Visuelle Stimuli sind wichtig: Man schätzt vor allem mit den Augen ab, ob man genug gegessen hat. Ist der Teller leer, fühlt man sich gesättigt. Manche Studien ergaben, dass es schon einen Effekt hat, wenn man kleinere Teller benutzt.
Was hilft noch?
Den Teller intelligenter füllen. Hat man ihn leer gegessen, ist das Hungergefühl gestillt. Wie viele Kalorien auf dem Teller lagen, ist dabei nicht so wichtig. Das kann man sich zunutze machen, indem man ihn mit weniger kalorienreicher Nahrung wie Gemüse oder Salat füllt.
Sie sagen, dass unser ungesundes Essverhalten sich oft unbewusst abspielt. Können Sie weitere Beispiele dafür nennen?
Wer vor dem Fernseher isst, nimmt 10 Prozent mehr zu sich. Der Grund hierfür ist, dass gedankenloses Essen weniger schnell sättigt. Wir essen auch mehr, wenn Essbares greifbar ist. Das ging zum Beispiel eindeutig aus einer Studie der Universität Utrecht hervor. Wenn eine Schale mit M&M’s in ihrer Reichweite stand, nahmen Versuchspersonen mehr davon.
Was war für Sie die grundlegende Erkenntnis?
Dass man nicht zu viel verführerische Nahrungsmittel im Haus haben sollte. Je mehr Vorrat da ist, desto schwieriger ist es, nicht zuzugreifen. Ich habe nie große Vorräte; Kekse und Süßigkeiten kaufe ich ab und zu. Es würde mir schwerfallen, die Sachen nicht zu essen, wenn sie immer im Schrank lägen. Aus unserer Studie zu Strategien, die Menschen bereits nutzen, ging hervor, dass diese Strategie mit am wenigsten genutzt wurde. Viele Leute haben gigantische Vorräte: Bei jedem Dritten liegen zum Beispiel 16 oder mehr Snackpackungen im Schrank.
Was kann man noch machen?
Richten Sie Ihre Küchenschränke so ein, dass Ihr Blick nicht immer auf die Kekse fällt, wenn Sie einen Teebeutel oder ein Kaffeepad nehmen. Halten Sie Ihre Schreibtischschublade und das Handschuhfach Ihres Autos frei von Süßigkeiten. Und stellen Sie beim Mittag- oder Abendessen die Töpfe oder Schalen nicht auf den Tisch, sondern füllen Sie die Teller in der Küche auf. Außerdem: Essen Sie nicht, während Sie andere Dinge tun, beispielsweise telefonieren, am Computer arbeiten oder Auto fahren. Kaufen Sie keine Produkte, zu denen Sie nur greifen, weil sie im Angebot sind. Ferner ist es gut, sich klarzumachen, dass man pro Tag ungefähr 200 Entscheidungen übers Essen trifft. Das führt zu mentaler Ermüdung. Und bedeutet, dass irgendwann ein Moment kommt, in dem man schwach wird. Selbstbeherrschung ist keine unerschöpfliche Quelle.
Kurz zusammengefasst: Man sollte dafür sorgen, dass man weniger in Versuchung gerät. Ist das alles?
Es ist vernünftig, sein ganz persönliches, gedankenloses Essverhalten unter die Lupe zu nehmen. Der eine schneidet nie Käse fürs Brot ab, ohne sich dabei schon mal zwei Scheiben extra in den Mund zu stecken. Der andere trinkt in der Küche ein paar Schlucke aus seinem Glas und schenkt sofort nach. Bei der Zubereitung der Soße kosten wir fast alle. Zählt man das alles zusammen, läppert es sich.
Aber wo soll man anfangen?
Mit Handlungen, die einfach zu realisieren sind und sofort etwas bringen. Vereinbaren Sie zum Beispiel mit sich selbst, nur noch den Brotbelag zu essen, der auf dem Brot liegt. Oder versuchen Sie mal, eine Woche lang Kaffee ohne Zucker zu trinken. Wenn Sie pro Tag sechs Tassen Kaffee mit jeweils zwei Zuckerwürfeln trinken, macht das 17 Kilo Zucker pro Jahr. Die ersten zuckerfreien Tassen sind eklig, aber halten Sie eine Woche durch, werden Sie sich kaum noch vorstellen können, dass Ihnen Kaffee mit Zucker mal geschmeckt hat.
So etwas ein paar Wochen lang zu machen, das finde ich nicht so schwierig. Durchhalten ist der springende Punkt.
Ja, man braucht auch Willenskraft. Die kann man sich wie einen Muskel vorstellen. Der kann erschlaffen, aber man kann Willenskraft auch trainieren. Zum Beispiel, indem man nicht gleich nach dem Essen einen Nachtisch nimmt, sondern erst eine Stunde später. Das Gute ist, dass es nicht so wichtig ist, in welchem Bereich man seine Willenskraft trainiert. Es geht darum, aus der täglichen Routine auszubrechen, und das eine Weile durchzuhalten. Das wirkt sich auch auf andere Situationen aus, in denen man Willenskraft braucht – wie etwa beim Abnehmen.
Es ist auch wichtig, die eigene Willenskraft zu unterstützen. Genug zu schlafen und regelmäßig zu essen, für ein gesundes Gleichgewicht zu sorgen aus Pflicht und Spaß. Sorgen Sie dafür, dass Ihnen genug Energie bleibt, um Ihre neuen Gewohnheiten zu verankern.
Klingt so einfach. Warum klappt es trotzdem so oft nicht, unser Essverhalten dauerhaft zu ändern?
Sein Verhalten zu ändern bleibt ein extrem schwieriges Unterfangen. Nach all den Jahren Forschung weiß ich, dass es keine Sofort-Methode gibt: Für welche auch immer man sich entscheidet, es kommt der Moment, an dem die Flitterwochen vorbei sind. Man kriegt weniger Komplimente, beginnt zu schummeln. Besonders wenn es stressig wird, fällt man leicht in alte Muster zurück. In den nächsten Jahren will ich vor allem untersuchen, was man gegen dieses Rückfallverhalten tun kann.
Was wissen Sie darüber bereits?
Dass es sehr wichtig ist, sich der Situationen bewusst zu sein, in denen es für einen persönlich riskant wird: Wann wirft man seine guten Vorsätze über Bord? Wie kommt es zu diesen Momenten? Was tun Sie, um Ihr Verhalten vor sich selbst zu verteidigen? Wie man mit Rückschlägen umgeht, spielt auch eine Rolle. Viele Leute denken, sie hätten alles verspielt, wenn sie einmal gesündigt haben. Nach vier Keksen könnten sie auch gleich die ganze Rolle auffuttern – sie sind ja eh gescheitert. Es ist besser zu akzeptieren, dass es ab und zu schiefgeht, und sich klarzumachen, dass man so eben seine eigenen Fallstricke kennenlernt. Ferner belegen Studien, dass Menschen, die es schaffen, ihren Gewichtsverlust langfristig zu halten, sich täglich ungefähr eine Stunde lang bewegen. Sie wiegen sich regelmäßig und halten sich an ein festes Ernährungsmuster, sowohl während der Woche als auch am Wochenende. Das mag monoton klingen, aber sich immer wieder neu anspornen zu müssen, das kostet einfach zu viel Energie. Das hält kein Mensch durch.
Ingrid Steenhuis (*1970) studierte Gesundheitswissenschaften und ist Professorin für Prävention an der Vrije Universiteit Amsterdam. Sie ist Co-Autorin des Buches "Smartsize Me", das in den Niederlanden eine Reihe an Preisen für die beste Anwendung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse gewann. Sie schrieb zudem ein Arbeitsbuch über den Umgang mit schwierigen Momenten und Versuchungen beim Abnehmen. Gemeinsam mit Co-Autor Wil Overtoom gibt Steenhuis an der Brickhouse Academy Kurse für Ernährungsberater.