Oft gut versteckt: Autismus bei Frauen
Laut Studien wird bei vielen Menschen Autismus erst mit Mitte 30 entdeckt - vor allem Frauen erhalten die Diagnose spät im Leben. Woran das liegt, weiß Expertin Annelies Spek
„Bei Autismus denkt jeder an einen sozial unbeholfenen Jungen, der eine Obsession für Dinosaurier hat oder den Zweiten Weltkrieg“, sagt Annelies Spek, Leiterin des niederländischen Zentrums für Autismus. „Es kann sich jedoch auch um ein Mädchen mit einer stark ausgeprägten Vorliebe für Nagellack oder für Pferde handeln. Wir müssen das Bild in unseren Köpfen dahingehend endlich korrigieren.“
Hinzu kommt, dass die Gesellschaft bei Jungen Verhaltensweisen akzeptiert, die sie bei Mädchen seltsam findet. Wenn ein Junge tagelang angelt und wenig redet, gilt das nicht sofort als Problem. Mädchen hingegen werden mehr dazu angehalten, ihr Verhalten der Norm anzupassen: Bring doch mal eine Freundin mit nach Hause. „Wenn sie das tut, denkt ihr Umfeld: Schau, sie hat eine Freundin, sie ist Pferdenärrin, alles in Ordnung.“
Frauen mit Autismus gewöhnen sich daher oft an, sich sozial zu verhalten. Sie lernen auswendig, welches Verhalten sozial erwünscht ist: Wie oft verabredet man sich, wann schickt man eine Whatsapp-Nachricht? Wie lange darf man reden, wann will der andere wieder zu Wort kommen? Infolgedessen wird Autismus bei Frauen öfter nicht oder erst spät erkannt.
Besonders intelligenten Frauen, die gut analytisch denken können, gelingt es, ihren Autismus lange zu kompensieren. Sie haben einen Job, eine Familie, ein Sozialleben. Spek: „‚Kluge Autistinnen wissen, was ihnen fehlt’, hat mir mal eine Frau mit Autismus gesagt. Ich kenne Frauen, die sich durch ausgeklügelte Systeme daran erinnern, wann es wieder Zeit ist, sich bei jemandem zu melden. Sozialverhalten ist oft eine Frage des Gespürs, aber ist das nicht vorhanden, ist es harte Arbeit.“
Autismus wird daher bei Frauen meist nur erkannt, wenn sie überlastet sind. „Oft häufen sich dann Beschwerden wie Angst und Schwermut. Wahrscheinlich, weil Frauen mehr Kontakte knüpfen, und es beängstigend ist, wenn man den anderen so schwer einschätzen kann.“ Etwa ein Prozent der Bevölkerung hat eine Störung im Autismus-Spektrum. Früher nahm man an, dass nur jeder zehnte Betroffene weiblich ist, heute geht man von 20 bis 50 Prozent aus. Spek: „Lange Zeit dachten wir, es gäbe relativ wenig Autistinnen, aber jetzt zeigt sich, dass es sie durchaus gibt. Wir haben sie nur nicht erkannt.“
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