Impfen? Mein Kind braucht das nicht!
Tausende Eltern lassen ihren Nachwuchs nicht mehr impfen. Warum gehen sie das Risiko oft schwerer Krankheiten ein? Im Internet peitschen sie sich gegenseitig auf, hier entkräften Fachleute ihre Argumente
Nicht erst seit in Deutschland wieder ein Kleinkind an den Spätfolgen einer Masernerkrankung gestorben ist, wird über den Sinn und Zweck von Impfungen gestritten. Laut Weltgesundheitsorganisation müssten 95 Prozent der Europäer gegen Masern geimpft sein, um die Krankheit bei uns auszurotten – doch nur bei zwei Dritteln der deutschen Kleinkinder passiert das rechtzeitig und vollständig. Mit ein Grund: die Skepsis der Eltern. Ein Viertel der Deutschen hat zumindest teilweise Vorbehalte gegen das Impfen, sechs Prozent lehnen es ganz ab, ergab eine Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Nicht aus Dummheit: Gerade Nicht-Impfer denken gut über ihre Entscheidung nach. Die US-Soziologin Jennifer Reich interviewte für ihr Buch Calling the Shots Hunderte Eltern, die sich aus Überzeugung dazu entschlossen haben, ihr Kind nicht impfen zu lassen. "Diese haben meist einen Hochschulabschluss und verdienen mehr als der Durchschnitt." Auch eine Umfrage der BzgA ergab, dass 58 Prozent der Impfgegner unter den Eltern das Abitur oder sogar studiert haben. Warum zweifeln sie an Nutzen und Sicherheit des Impfens? Fünf Missverständnisse übers Impfen, psychologisch erklärt:
MISSVERSTÄNDNIS 1
"Nur ich weiß, was für mein Kind am besten ist"
Immer mehr Eltern folgen lieber ihrer Intuition und persönlichem Wissen als den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien zum Impfnutzen, stellte Soziologin Jennifer Reich in ihren Gesprächen mit Eltern fest. "Immer wieder hörte ich: 'Ich kenne mein Kind besser als irgendwer sonst, nur ich kann über sein Wohl entscheiden.'" Laut Reich gehört dieses Denkmuster zum neuen Erziehungsstil der "individualistischen Elternschaft", bei der sich Eltern nicht von Institutionen lenken lassen, sondern selbst über ihre Kinder entscheiden möchten. Auch weil die Gesellschaft ihnen vermittelt: Du bist für das Wohl deines Kindes verantwortlich.
Dieser Glaube an die eigene Kompetenz macht sie nicht nur Impfungen gegenüber skeptisch, sie trauen auch den Institutionen nicht, die für deren Kontrolle zuständig sind.
Cornelia Betsch, Psychologin bei CEREB, einem Center der Universität Erfurt, das soziale Verhaltensweisen wie die Entscheidung gegen das Impfen erforscht, beschreibt diesen Gedanken als Form der Selbstüberschätzung.
"Eltern, die nicht impfen lassen möchten, haben oft das Gefühl, primär für ihr Kind verantwortlich zu sein. Sie sind den ganzen Tag damit beschäftigt, sich für das Richtige zu entscheiden, vom Windeltyp bis zum Müsli. Da fühlt es sich nicht gut an, bei den empfohlenen One-size-fits-all-Impfungen einfach mitzumachen. Sie möchten innerhalb dessen wählen können. Und halten sich da für Experten, die Tatsache ignorierend, dass Impfempfehlungen auf harten Fakten, Studien und Zahlen basieren."
MISSVERSTÄNDNIS 2
"Impfungen sind gefährlich, denn Kinder sind danach schon erkrankt"
Googelt man "Impfung", landet man schnell auf Blogs und in Foren, wo Geschichten über allerlei angebliche Nebenwirkungen geteilt werden. Impfforscherin Betsch: "Eltern schreiben Krankheiten oft zu Unrecht den Impfungen zu. Sie hatten ein gesundes Kind, es wurde geimpft, und als es danach krank wurde, waren sie sicher: Es liegt am Impfen! Dieses psychologische Phänomen heißt illusionäre Kausalität; weil zwei Ereignisse zeitgleich auftreten, glaubt man, es gäbe einen kausalen Zusammenhang."
Auch die Berichterstattung über Nebenwirkungen kann misstrauisch gegenüber der Pharmaindustrie und Gesundheitsinstituten machen. 2011 wurde berichtet, dass nach der Impfung Hunderttausender Kinder gegen die Mexikanische Grippe weltweit 162 Fälle von Narkolepsie gemeldet wurden, die meisten in Skandinavien, neun auch in Deutschland. Experten bezweifeln, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Impfung und Krankheit gab, dennoch entstand das Bild, Pharmaunternehmen verbreiteten nur zu gern ihren Impfstoff und offizielle Stellen hätten ihn nicht genügend auf Sicherheit geprüft.
Eine weitere vermeintliche Nebenwirkung ist Autismus. In den 80er-Jahren veröffentlichte der englische Wissenschaftler Andrew Wakefield eine Studie, die beweisen sollte, dass Kinder nach der Impfung gegen Mumps, Masern und Röteln autistisch werden. Diese erwies sich als Betrug, Wakefield durfte seinen Beruf nicht mehr ausüben. Betsch: "Trotzdem glauben Leute noch immer, er hätte recht gehabt. Denn die ersten Anzeichen von Autismus treten im selben Alter auf, in dem ein Kind gegen Masern geimpft wird. Es gibt da nicht den geringsten Zusammenhang, aber das ist Eltern manchmal schwer verständlich zu machen, wenn sie sich sicher sind, dass ihr Kind sich durch die Impfung verändert hat – und sie sich ausführlich im Internet dazu äußern."
Und diese Negativberichte haben dann wieder großen Einfluss auf Zweifler. Bei einem Experiment zum Thema stellte sich heraus, dass schon ein fünfminütiger Besuch derartiger Foren, Websites und Blogs dafür sorgt, dass Versuchspersonen an Nutzen und Sicherheit von Impfungen zweifeln.
MISSVERSTÄNDNIS 3
"Mein Kind kann solch eine Krankheit gut verkraften"
Auch über die Konsequenzen der Impfmüdigkeit gibt es Missverständnisse – die dazu führen, dass das Risiko unterschätzt wird. Els Geelen, Soziologin an der Universität Maastricht, sprach mit vielen Eltern, die am Impfnutzen zweifeln. "Sie sagen: 'Mein Kind kann so eine Krankheit gut verkraften, ich setze mich rund um die Uhr an sein Bett, wir kriegen das schon hin.' Aber bei Kleinkindern können die Konsequenzen einer Infektion gravierend sein. Und eine ernsthafte Erkrankung ist oft auch Pech – man hat es nie ganz in der Hand."
Cornelia Betsch sagt hierzu: "In meiner Studie beschreibe ich vier Arten von Nicht-Impfern. Eine davon ist der arglose Typ: Dieser weiß tatsächlich nichts von den Folgen einer Krankheit wie Masern, er gründet sein Handeln auf dem Gefühl, es werde schon nicht so schlimm sein. Wir werden in Westeuropa kaum noch mit Pocken, Masern oder Polio konfrontiert. Eltern haben daher keine Ahnung, wie gefährlich diese Krankheiten sein können."
MISSVERSTÄNDNIS 4
"Ich bin mir nicht sicher, also lasse ich es lieber"
Psychologen nennen das Omission Bias, die "Neigung zur Unterlassung": Unannehmlichkeiten, die durch etwas entstehen, das wir nicht tun, finden wir weniger schlimm als negative Konsequenzen, die aus unseren Taten resultieren. Dieser Mechanismus spielt laut Tania Lombrozo, Psychologieprofessorin an der University of California, bei der Entscheidung gegen das Impfen eine Rolle. Aus ihrer Studie geht hervor, dass manche Eltern es "unheimlicher" finden, ihr Kind dem Impfen auszusetzen, als nichts zu tun und abzuwarten, was passiert.
Dieses Phänomen kennt auch Cornelia Betsch: "Impfen geht einem eigentlich total gegen die Intuition: Das Kind ist gesund, warum sollte man ihm mutwillig Giftstoffe injizieren? Für manche Menschen ist es beruhigender, diese Erfahrung ganz zu vermeiden."
MISSVERSTÄNDNIS 5
"Wenn alle geimpft sind, braucht mein Kind ja keine Impfung"
Ungeimpfte werden oft trotzdem vor Krankheiten geschützt. Soziologin Reich: "Bei einem hohen Impfgrad ist die ganze Gruppe resistent gegen die Krankheit – durch Herden-Immunität. Es gibt Nicht-Impfer, die denken: Wenn sich alle impfen lassen, brauche ich mein Kind dem ja nicht auszusetzen." Diese Eltern sind Trittbrettfahrer, fahren also "gratis" mit der Masse mit.
Laut Betsch sollten Behörden sich viel mehr der Herden-Immunität widmen. "Wenn wir alle beschließen, unsere Kinder nicht impfen zu lassen, ist die Immunität weg. Und dann gibt es nicht nur kleine Kinder, sondern viele Menschen mit schlechter Widerstandsfähigkeit – von Eltern bis Krebspatienten. Das sind hohe Risiken. Behörden müssten den Aspekt viel mehr thematisieren: Man impft nicht nur für sich selbst, sondern für alle."
Quellen u. a.: Einstellungen, Wissen und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zum Infektionsschutz, BzgA, 2014 / J. Veldwijk, Discrete choice experiments in public health, Universität Utrecht, 2015 / J. Reich, Calling the Shots, NYU Press, 2016 / E. Geelen u. a., Taming the fear of voice: Dilemmas in maintaining a high vaccination rate in the Netherlands, Social Science and Medicine, 2016 / C. Betsch u. a., Using behavioral insights to increase vaccination policy effectiveness, Policy Insights from the Behavioral and Brain Sciences, 2015
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Der Artikel "Impfen? Mein Kind braucht das nicht!" ist in Ausgabe 6/2017 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das komplette Heft können Sie im Shop nachbestellen.