"Endlich erfuhr ich: Opa ist nicht an Krebs gestorben"
Zum Begräbnis von Dianas Großvater kamen viele Leute - aber kaum jemand wusste, dass Aids die wahre Todesursache war. Und Diana glaubt bis heute nicht daran, dass er sich an einer Spritze infiziert hat
Mein Groflvater war lange krank. Er hatte Krebs. Ich war damals 16 und gerade im ersten Ausbildungsjahr als Krankenschwester. Mich interessierte seine Krankheit. In der Klinik fragte ich die Pfleger, welche Art von Krebs er hätte, welche Medikamente er bekäme. Ich wollte wissen, warum sie Handschuhe trugen, wenn sie ihm Spritzen gaben. Das war zu der Zeit noch nicht üblich. Aber ich wurde sorgfältig außen vor gehalten. Ich ging mit auf Krankenbesuch, aber nur meine Mutter redete.
Ich hatte keine so gute Beziehung zu meinem Opa. Er guckte stets streng und war dominant. Meiner Oma gegenüber benahm er sich oft sehr schroff, aber meine Mutter liebte ihn. Meinte jemand, sie sei ihm ähnlich, strahlte sie. Es gab kaum ein größeres Kompliment für sie. Zu meiner Oma hatte ich aber eine gute Beziehung – sie war eine liebe Frau. Schon als Kleinkind hing ich sehr an ihr.
Eines Tages fegte meine Oma im Krankenhausflur wütend alle Tassen von einem Servierwagen. Die Scherben flogen nur so durch die Gegend. Ich wollte zu ihr, aber meine Mutter brachte mich so schnell wie möglich von dort weg. Niemand erklärte mir, was los gewesen war. Meine sanftmütige Oma, die ausrastete – dieses Bild wurde ich nicht mehr los.
Ab diesem Tag hielt man mich ständig von Oma fern. Wenn ich sie besuchen wollte, ging meine Mutter mit. Wenn ich sie etwas fragen wollte, schnitt mir meine Mutter das Wort ab. Intuitiv spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Aber wenn ich meine Oma sah, tat auch sie so, als sei nichts. Sie sagte mir, der Kummer über Opas Krebserkrankung sei für einen Moment einfach zu viel gewesen für sie. Aber ich spürte, dass da noch etwas anderes war. Ich wusste nur nicht, was.
Irgendwann kam mein Opa in ein Pflegeheim. Er war stets ein gut aussehender Mann gewesen, aber zu dem Zeitpunkt war er extrem dünn und seine Haut voller dunkler Flecken. Mit 54 Jahren starb er. Beim Begräbnis waren viele Leute, das ganze Dorf kannte ihn. Er war in Vorständen, im Vereinsleben aktiv. Die Menschen fühlten mit uns: dieser charmante Mann, so jung gestorben.
Die Beziehung zwischen meiner Oma und mir verschlechterte sich nach seinem Tod. Sie war wütend und traurig, es war, als hätte sie sich hinter einer Mauer verschanzt. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mir etwas erzählen wollte, sich aber nicht traute. Wenn ich meine Mutter danach fragte, winkte diese ab und meinte, ich solle sie nicht damit nerven.
Als ich mit 22 unverhofft schwanger wurde, hatte ich das Bedürfnis, meine Familie zu sehen. Der Kontakt war während meines Studiums etwas eingeschlafen. Natürlich vermisste ich meine Oma, die Frau, mit der ich mich so eng verbunden gefühlt hatte. Sie war so froh, dass ich wieder da war! Wir sahen uns immer öfter, aber meine Mutter versuchte erneut, uns voneinander fernzuhalten. Ich aber wollte meine liebe Oma unbedingt ins Leben meines Kindes mit einbeziehen. Inzwischen war ich ja erwachsen und ließ es nicht zu, dass sich meine Mutter wieder zwischen uns stellte.
Als meine Mutter schließlich ein Burn-out hatte, gab sie mir die Schuld daran. Kam ich zu Besuch, saß sie nur stoisch da, ich drang einfach nicht zu ihr durch. Ich erklärte meinem Mann, dass ich seit Jahren versuchte, meine Mutter zu akzeptieren, doch sie mich ständig aussperrte. Das wollte ich nicht mehr. Ich sagte meiner Mutter, was ich von ihrer Erziehung hielt. Dass ich zwar nicht wüsste, was los sei, aber immer das Gefühl gehabt hätte, irgendwas in unserer Familie stimme nicht. Und dass das schlimm gewesen sei.
Wochenlang hörte ich nichts von meiner Mutter. Eines Abends rief mein Vater an, ich solle vorbeikommen. Er tat gewichtig. Meine Mutter saß schweigend auf dem Sofa, wie immer. "Mama hält das nicht mehr aus, Diana", sagte mein Vater. "Wegen dir hat sie ein Burn-out, und jetzt wollen wir offen zu dir sein. Aber was wir dir jetzt sagen, darfst du nie weitererzählen."
Mit einem Mal war ich ganz entspannt. Ich dachte: Endlich bekomme ich zu hören, was ich immer schon wissen wollte. Mein Vater sagte: "Opa ist nicht an Krebs gestorben. Er hatte Aids." Meine Mutter meinte nur: "Du hast einfach nicht verstanden, dass ich dich nur beschützen wollte. Oma achtet auf nichts. Ich habe alles getan, um zu verhindern, dass sie deine Tochter infiziert. Jetzt halte ich das nicht mehr aus."
Ich fragte, wie lange sie das schon wussten. An dem Tag, als meine Oma das Geschirr vom Servierwagen fegte, hatte sie vom Arzt erfahren, dass ihr Mann Aids hatte. Der Krebs war nur eine Folge davon gewesen. Daraufhin war meine Oma auch getestet worden, und ein paar Monate später – so lange dauerte das damals – erfuhr sie, dass sie HIV-positiv war. Meine Mutter behauptete, Opa hätte sich an Spritzen infiziert, die er auf einem Baugelände aufgehoben hatte. Ich glaubte ihr kein Wort. Aber wieder durfte ich mit meiner Großmutter nicht darüber reden. Es dauerte zwei Jahre, bis ich es doch tat. Oma nahm meine Hand, sie war so erleichtert, dass ich Bescheid wusste. So oft war sie kurz davor gewesen, es mir zu erzählen. Ich sagte, man bekäme nicht einfach so Aids, und ob Opa vielleicht fremdgegangen sei oder einen "Schwulenwald" besucht hätte, so nannte ich das damals. Ob sie schon mal darüber nachgedacht hätte? Sie sagte: "Natürlich, Mädchen, ich bin ja nicht verrückt." Mein Opa hätte aber nie mit ihr darüber reden wollen.
Körperlich geht es meiner Oma jetzt gut. Sie fährt viel Fahrrad und tanzt gern. Wenn sie weiter ihre Medikamente nimmt, kann sie im Prinzip niemanden anstecken. Unsere Beziehung ist wieder so gut wie vor dem Tod meines Opas. Eigentlich noch besser.
Vor noch nicht allzu langer Zeit hat Oma einen Mann kennengelernt. Sie sind verliebt, und sie hat ihm erzählt, dass sie HIV-positiv ist. Sie hatte Angst, es ihm zu sagen, aber ich habe sie in diesem Vorhaben bestärkt. Ihr Freund reagierte sehr nett und verständnisvoll.
Es ist eine traurige Geschichte mit einem schönen Ende. In der restlichen Familie und im Dorf weiß weiterhin niemand Bescheid, aber zwischen uns ist es zum Glück kein Geheimnis mehr.
Diana heißt in Wirklichkeit anders.
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