Die Wende - ein Trauma?
Vor 30 Jahren wurde die Mauer geöffnet - und hat viele Leben radikal verändert. Inwiefern hinterließ die Teilung in Ost und West psychische Spuren? Und war die Wende nicht nur Traum, sondern auch ein Trauma? Anworten von Dr. Holger Süß, Chefarzt einer psychosomatischen Klinik im ehemaligen Grenzbereich
„Ost – West: ein Traum(a)“ – dieser Frage haben Sie sich an Ihrer psychosomatischen Rehabilitationsklinik kürzlich in einer Tagung gewidmet. Für wen ist denn Ost-West noch heute ein Trauma – und wieso?
Dr. Holger Süß: Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Und so alle Patientenakten unserer Klinik der letzten 15 Jahre genau danach durchsucht: Wer litt an einer posttraumatischen Belastungsstörung? Und bei wem hatte das mit unserer Ost-West-Geschichte zu tun? Bei fünf Prozent der PTBS-Patienten wurde ich fündig. Aber: Es handelte sich nur um Ost-Geschichten. Menschen, die in der DDR beispielsweise denunziert wurden, in Haft waren, deren beruflicher und persönlicher Werdegang bis heute davon beeinflusst wird.
Wie wirkt sich diese Traumatisierung symptomatisch aus?
Viele Betroffene leben sozial zurückgezogen, gesellschaftlich isoliert. Sie teilen die Angst vor Menschen und Institutionen, schlafen schlecht, haben Albträume. Zusätzlich leiden sie an Komorbiditäten wie depressive Störungen oder einer psychisch bedingten Schmerzstörung.
Aber die Wende an sich war nicht traumatisierend?
Sie war weder Traum, noch Trauma. Aber sie hat viele Lebenswege geändert, die Identität vieler Menschen in Frage gestellt und bei ihnen z.B. für Verbitterungsstörungen gesorgt. Wer etwa Jurist oder Polizist in der DDR war, war das plötzlich nicht mehr. Mir ist aufgefallen, dass es persönliche Geschichten des Scheiterns gibt, die sich über die Jahre und Generationen wiederholen – ausgelöst durch ein einschneidendes Erlebnis. Das war die Wende wie auch das Kriegsende 1945. Es wurde in beiden Fällen oft verdrängt, wie die eigene Familie zu der Zeit sich verhielt, vieles weggeschoben, aus Scham, Abwehr, weil es ein Tabu war. Auch wenn sich das natürlich nicht verallgemeinern lässt: Es gab das Gefühl, dass man seine persönliche Geschichte der Benachteiligung mit vielen teilt. Daher diese kollektiven Abwehrmechanismen.
Wie kann man diese Verbitterungsstörung, das „Wende-Trauma“ bewältigen?
Das ist etwas, das dauert. Es ist ein lebenslanger Prozess der Versöhnung mit sich selbst und seiner Geschichte – das kann über Generationen gehen.
Dr. med Holger Süß ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Neurologie und Psychiatrie und Chefarzt an der Dr. Becker Burg-Klinik, einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik in Stadtlengsfeld, Thüringen.