Zwillinge: Vom Wir zum Ich
Wo hört der eine auf und fängt der andere an? Für eineiige Zwillinge ist diese Frage nicht so leicht zu beantworten. Und bringt auch schon mal das eigene Selbstverständnis aus dem Tritt
Es ist der Zufall, der diesen winzigen Zellklumpen in der Gebärmutter in zwei Hälften teilt. Das war’s dann wohl, sollte man meinen. Aber nein, die getrennten Zellhaufen wachsen unbeirrt weiter. Und es entsteht nicht ein Baby, sondern es werden identische Zwillinge geboren. Auch außerhalb der Gebärmutter wachsen eineiige Zwillinge unter besonderen Umständen auf; mit einem genetisch identischen, gleichaltrigen Kind, das oft dasselbe erlebt. Daraus entsteht eine besondere Beziehung, die jeden Zwilling aber auch vor schwierige Aufgaben stellt. Vor allem, wenn er nicht mehr nur "wir" sein will, sondern auch "ich".
Vor der grundlegendsten Herausforderung in ihrer Identitätsfindung stehen Zwillinge – ein- wie zweieiige – schon sehr früh. Man nehme zum Beispiel die Zwillinge Moritz und Mats, zusammen in einem Buggy. Ein großer Hund rennt darauf zu und beschnüffelt die beiden. Moritz erschrickt und sieht gleichzeitig den Schrecken im Gesicht seines Bruders. "Die Kopplung der eigenen Erfahrungen mit der wahrgenommenen Reaktion des anderen erschwert es, herauszufinden, wo man selbst aufhört und der Bruder oder die Schwester anfängt", sagt der emeritierte Professor für Kinderpsychiatrie Frits Boer, der auf Geschwisterbeziehungen spezialisiert ist.
Selbst wenn Zwillinge herausgefunden haben, dass sie keine Einheit bilden, bleibt die Beziehung eng. "Zwillinge erleben viel gemeinsam. Sie wissen besser als irgendwer sonst, wie sie sich gegenseitig unterstützen, trösten, Mut machen", sagt Hester van Wingerden, die Zwillinge in ihrer persönlichen Entwicklung begleitet. Diese wichtige Rolle im Leben des anderen führt manchmal dazu, dass unbewusst angenommen wird, der eine Zwilling dürfe nicht glücklich sein, wenn es der andere nicht ist.
"Diese Loyalität ist erstickend", sagt Boer. "Um ihr zu entkommen, wenden sich Zwillinge in der Pubertät oft voneinander ab." Schwierig wird’s, wenn das Bedürfnis nach Abstand nicht synchron auftritt. Wenn einer der beiden zum Beispiel einen Partner findet und der andere nicht. "Das kann sehr schmerzhaft und einsam für die zurückgelassene Person sein", sagt Boer. Rückblickend kann das aber gerade die Zeit sein, die Zwillinge als den Beginn ihrer Ablösung bezeichnen.
Noch ein Mechanismus macht es besonders eineiigen Zwillingen schwer, herauszufinden, wer sie als Individuen sind: "Wenn es um Qualitäten wie die eigene Gelenkigkeit, das Gefühl für Humor oder Musikalität geht, kann man herausfinden, wo man steht, wenn man sich mit Gleichaltrigen vergleicht", so Boer. Aber während Nicht-Zwillinge mit Klassenkameraden oder Freunden konkurrieren, vergleichen sich Zwillinge normalerweise miteinander. Angenommen, Sara ist gut im Sport, aber ihre Zwillingsschwester Mara noch ein bisschen besser, dann wird Mara schnell zur "Sportlichen" und Sara zur "Unsportlichen". Boer: "Besonders bei eineiigen Zwillingen, die genetisch identisch sind und deren Kapazitäten nah beieinanderliegen, werden die Unterschiede so stark vergrößert. Das wird den wahren Fähigkeiten beider nicht gerecht. Sara würde – von anderen und auch sich selbst – als ziemlich sportlich wahrgenommen werden, wenn sie nicht eine noch sportlichere Schwester hätte."
Diesem Spiegel können Zwillinge nie entkommen. Nicht-Zwillinge können sich verglichen mit Nachbarskindern als "mutig" zeigen und in der Klasse als Spaßvogel. Das ermöglicht ihnen, mehrere Aspekte ihrer Identität zu entdecken. Diese Option ist begrenzt, wenn der Maßstab, der einen definiert, stets in der Nähe ist. Es gibt sogar Zwillinge, die anhand ihrer "Stempel" eine Art Arbeitsteilung vornehmen. Der Durchsetzungsfähige ergreift stets die Initiative, während der "Intelligente" die Aufsätze schreibt. So werden die Etikettierungen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. "Bei der Entwicklung ihrer Identität stehen eineiige Zwillinge vor der Herausforderung, zu erkennen, welche Label sie sich unbewusst selbst gegeben haben", sagt Hester van Wingerden. "Und das beginnt schon, wenn sie erkennen, dass sie nicht nur der Schüchterne sind, sondern auch Durchsetzungsvermögen besitzen, sie also diese verschiedenen Rollen in sich tragen und auch entwickeln können."