Überwindet Liebe wirklich alles?
Fernbeziehungen über Tausende von Kilometern, Geheimnisse, Krankheiten: Wann Liebe stärker ist als all das – und wann nicht
Wann ist ein Problem zu groß, um als Paar zu überleben? "Das lässt sich nicht so leicht sagen und hängt von unterschiedlichen Faktoren ab", sagt Beziehungstherapeutin Carolien Roodvoets. "Etwa, wie viel Stress die Situation mit sich bringt und wie gut man damit umgehen kann. Aber auch, wie viel Anerkennung man voneinander bekommt, wie gut man miteinander kommuniziert und wie lösungsorientiert beide sind. Oft kann man mit praktischen Lösungen nämlich schon viel erreichen. Nicht zusammenziehen zum Beispiel, wenn man sich stark über bestimmte Dinge des Partners oder der Partnerin ärgert. Und bei einer Fernbeziehung hilft es auf jeden Fall, wenn man viel Kontakt hält über Videotelefonie, so dass doch eine gewisse Art von Intimität da ist."
Roodvoets hält es zudem für wichtig, dass die vorhandenen Probleme nicht bewusst von einem der beiden verursacht oder manipulativ eingesetzt werden. "Wenn Sie beispielsweise Geräusche schlecht ertragen und Ihr Partner gibt sich keinerlei Mühe, darauf Rücksicht zu nehmen, dann fühlt sich das ganz anders an als eine gemeinsame Suche nach Lösungen." Trotzdem bleibt es schwierig, sich gegenseitig keine Vorwürfe zu machen. Vor allem, wenn noch weitere Probleme dazukommen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man es sich doch gegenseitig übel nimmt, auch wenn das rational gesehen unbegründet ist.
Helfen kann dann, sich ganz auf die positiven Seiten eines Menschen zu konzentrieren, sagt die Biopsychologin Sandra Langeslag, die an der University of Missouri–St. Louis erforscht, wie sich Liebesgefühle beeinflussen lassen. "Aus mehreren Studien ist bekannt, dass wir unsere Emotionen regulieren können. Nun ist Liebe keine Emotion, aber unsere Studie zeigt, dass es auch hier wirkt, wenn wir uns auf Positives konzentrieren. Indem wir sehr bewusst an die angenehmen, schönen Seiten des anderen denken, verstärken wir die Liebesgefühle. Dabei muss man allerdings schon sehr konkret sein. Also nicht: Was ist er doch für ein lieber Mann, sondern: Er ist immer so fürsorglich, und er riecht so wunderbar. Man sollte sich das auch häufig sagen – am liebsten täglich oder sogar mehrfach am Tag. Dann ist der Effekt vielleicht noch immer nicht riesengroß, aber das kann einem schon durch schwierige Zeiten helfen."
Diese Technik wird in der Wissenschaft Reappraisal (Neubewertung) genannt und kann auch umgekehrt dazu eingesetzt werden, Liebesgefühle zu vermindern. Dabei konzentriert man sich intensiv auf die negativen Seiten des anderen. Man kann diese Technik anwenden, wenn die Situation so kompliziert ist, dass man die Beziehung lieber beenden sollte, sagt Roodvoets. "Liebe überwindet leider nicht alles. Lieben allein reicht nicht immer, um mit jemandem alt zu werden. Man muss in der Lage sein, gemeinsam ein gutes Leben zu führen. Die Hindernisse, auf die man stößt, müssen erträglich sein. Wenn man nur sehr wenig Zeit zusammen verbringen kann oder ganz unterschiedliche Wünsche für die Zukunft hat, kann es zu schwierig werden."
Eine gute Richtschnur ist, dass eine Beziehung einen öfter glücklich als unglücklich machen sollte. Ist das nicht der Fall, sollte man sich lieber für sich entscheiden.
Das Unangenehme daran ist, dass ein Bruch einen kurzfristig nur noch unglücklicher macht, während es keine Garantie dafür gibt, dass man letzten Endes ohne besser dran ist, sagt Roodvoets. "Es ist ein Sprung in die Tiefe. Ich finde es mutig, wenn Menschen, die sich lieben, beschließen, sich zu trennen, weil es zu kompliziert ist. Wer davon überzeugt ist, dass es nur den einen oder die eine Wahre(n) gibt, tut sich schwer, einen solchen Entschluss zu fassen. Für diejenigen, die glauben, auch mit verschiedenen Menschen glücklich werden zu können, ist der Schritt etwas weniger groß."
Aber lässt sich überhaupt steuern, in wen man sich verliebt? Sandra Langeslag glaubt, dass dies nicht der Fall ist. "Man kann höchstens verstärken oder abschwächen, was bereits vorhanden ist."
Weiterlesen
In der Ausgabe 06/21 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erzählen zwei Paare von ihrer fast unmöglichen Liebe. Bestellen Sie das Heft jetzt in unserem Shop.