Liebesbeziehungen anders gestalten
Ein Leben lang demselben Partner treu bleiben und gemeinsam alt werden? Klingt schön, erweist sich aber nicht selten als Utopie. Und so fragt sich unsere (frisch verliebte) Autorin: Wären wir nicht alle viel glücklicher, wenn wir Liebesbeziehungen anders gestalten würden?
Sollte ich mein Liebesleben mit einem Wort beschreiben, käme „turbulent“ wohl in die nähere Auswahl. Ich hatte drei langjährige Beziehungen, habe mit zwei der Partner zusammengelebt und war mit dem dritten zwölf Jahre ohne gemeinsame Wohnung zusammen. Das Ende meiner ersten Beziehung verlief so entspannt, dass wir nahezu schmerzfrei von Geliebten zu besten Freunden wurden – und das sind wir immer noch. Dass das nicht selbstverständlich ist, haben mich die darauffolgenden Beziehungen gelehrt: Bei der einen betrog ich meinen Partner, bei der anderen war es umgekehrt. Kummer und Wut sind nicht die richtige Basis für eine Freundschaft, folglich sehe ich beide Männer leider nicht mehr.
Meine jetzige Beziehung ist noch im Anfangsstadium, fühlt sich aber an wie die große Liebe. Wir haben liebestechnisch Ähnliches erlebt und finden beide, dass Monogamie nichts für uns ist. Wir gehen das nicht aktiv an, aber ist die Versuchung groß, ist Fremdgehen kein Kapitalverbrechen. Ein gutes Gefühl, das mich paradoxerweise nur noch mehr mit ihm verbunden fühlen lässt. Ich bin voller Hoffnung, dass diese halb offene Form gut zu uns passt.
Freiere Beziehungsformen
Mein Freund und ich sind nicht die Einzigen, die ihre Beziehung etwas anders gestalten. Immer mehr lösen sich vom romantischen Ideal des einen ewig „Richtigen“. Sie glauben – auch da der Zeitgeist sich wandelt –, dass Liebe in verschiedenen Gestalten daherkommen kann. Die Zeiten, da Unverheiratete zu Einsamkeit und Armut verdammt waren, sind zum Glück vorbei, und auch Homo- und Bisexualität werden immer mehr akzeptiert. "Dadurch haben sich unsere Erwartungen an die Liebe revolutionär verändert", sagt Psychologin Tila Pronk, die an der Universität Tilburg Liebesbeziehungen untersucht. "Früher war Heiraten eher eine praktische Entscheidung: Männer und Frauen brauchten einander. Danach wurde Liebe das wichtigste Motiv, und in den vergangenen 20 Jahren kam noch hinzu, dass wir uns gegenseitig inspirieren und bereichern sollen. Zudem sind wir weniger bereit, an der Beziehung zu arbeiten. Sie muss sofort gut sein – sonst soll es wohl nicht sein."
Unsere steigende Wahlfreiheit hat sichtbare Folgen, denn heutzutage wird zwar nach wie vor viel geheiratet, aber jede vierte Ehe auch wieder geschieden – und "kein Interesse mehr aneinander" ist der dafür am meisten genannte Grund. Die häufigste Wohnform ist längst der Single-Haushalt, rund 41 Prozent der Deutschen leben laut Statistischem Bundesamt allein. Aber nicht zwingend, weil sie Singles sind: Die Lebensform "Living Apart Together", als Paar getrennt zu leben, wird auch bei uns immer beliebter.
Aus aktuellen Studien des Kinsey Institute über Sexualität geht zudem hervor, dass 20 Prozent der US-Amerikaner schon mal eine offene Beziehung geführt haben. Und gerade Millennials – geboren zwischen 1980 und 2000 – bezeichnen sich immer öfter als "sexuell fluide" (nicht zu 100 Prozent homo- oder heterosexuell) und finden es normal, mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig zu haben.
Das Standardszenario des "Bis dass der Tod uns scheidet" ist also längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Was sich jedoch nicht verändert hat, sei unser Bedürfnis nach sicherer Verbundenheit, sagt Esther Kluwer, die als Professorin zu Langzeitbeziehungen forscht. "Für dieses Urbedürfnis gibt es unzählige wissenschaftliche Beweise. Um gut funktionieren zu können, brauchen wir intime Beziehungen, in denen wir uns völlig akzeptiert und geliebt fühlen und unser Wohlbefinden genug Aufmerksamkeit bekommt. Die überwiegende Mehrheit sucht das immer noch in einer Bindung mit sexueller Exklusivität – aber Monogamie ist nicht für jeden eine Bedingung. Man kann diese Verbundenheit auch mit mehreren Menschen gleichzeitig erleben."
Laut Tila Pronk werden nicht-traditionelle Beziehungsformen immer akzeptierter werden. "Die Normen scheinen sich zu verschieben. Die Menschen sind offener und trauen sich zu sagen, dass ihre Beziehung vom Standard abweicht. Bisher muss man der Außenwelt oft noch erklären, dass man es anders macht, aber das galt vor nicht allzu langer Zeit auch, wenn man sich scheiden ließ – was jetzt völlig normal ist. In 20 Jahren wird uns eine offene Beziehung oder Polyamorie wohl kaum noch erschüttern."
Mehr Eifersucht bei offenen Beziehungen?
Aber funktioniert das denn, so eine freiere Beziehung? Wie wirkt es sich auf die Liebe aus, wenn man swingt, eine offene Partnerschaft führt oder polyamor lebt? Das ist schwer zu sagen, noch wurde nicht viel dazu geforscht. Eine klein angelegte kanadische Studie aber ergab, dass Partner in einer offenen Beziehung ebenso zufrieden sind wie monogame Paare, und laut einer US-Studie sind Leute in einer polyamourösen Beziehung sogar oft etwas glücklicher. Auf jeden Fall sollte die Motivation stimmen, so Pronk. "Wir wissen aus Studien, dass Beziehungen, die monogam anfingen und in denen die sexuelle Exklusivität erst später gelöst wurde, oft zerbrechen. Die Beziehung zu öffnen war da eine Art letztes Mittel, sie zu retten. Ein Partner hatte die Beziehung eigentlich schon aufgegeben, und der andere erklärte sich vielleicht nur aus Angst vor der Trennung zur offenen Beziehung bereit. So ein Ungleichgewicht trägt die Partnerschaft nicht dauerhaft."
Auch auf andere Art ist Ebenbürtigkeit ein Thema: Manchmal hat der eine Partner jede Woche jemand anderen, während der andere allein zu Hause hockt. Oder in einer polyamourösen Beziehung wird die Aufmerksamkeit ungerecht verteilt. Pronk: "Und was macht man, wenn einer der Partner die einst getroffene Vereinbarung nicht mehr mag? Ich will nicht sagen, dass dieses Ziel unerreichbar ist, doch leicht ist es nicht. Aber es gilt auch für monogame Beziehungen: Jede dritte bis zweite langjährige Beziehung zerbricht irgendwann."
Im Prinzip kann jede Beziehungsform funktionieren, wobei bei freieren Beziehungen Eifersucht eher ins Spiel komme, meint Professorin Esther Kluwer. "Es meldet sich eine Art verinnerlichte Alarmglocke, wenn eine starke Bindung gefährdet ist – ob das nun tatsächlich so ist oder sich nur so anfühlt. Die evolutionäre Psychologie erklärt das damit, dass wir verhindern wollen, dass unser Partner Nachkommen mit jemand anderem zeugt und in diesen Nachwuchs investiert. Natürlich kann man meinen, das passe nicht mehr in unsere Zeit, aber die Alarmfunktion bleibt trotzdem angeschaltet."
Man selbst sein können
Das Bedürfnis, frei und zugleich verbunden zu sein, sorge in allen Formen einer modernen Beziehung für Spannung, schreibt Beziehungstherapeutin Esther Perel in ihrem Buch Wild Life. "Das Schwierige an Liebe ist, dass sie auf zwei Säulen ruht: Hingabe und Autonomie. Unser Bedürfnis nach Intimität und Nähe geht einher mit unserem Bedürfnis, unabhängig vom anderen zu existieren. Wenn Paare zu viel miteinander verschmelzen, verschwindet das Verlangen."
Aber auch bei zu wenig Hingabe leidet die Liebe, und man entfremdet sich. Zudem mag es die Herausforderung unserer Zeit sein, weiterhin Verbindung zu suchen, obwohl wir einander immer weniger brauchen. Jeder verdient oft sein eigenes Geld, hat einen eigenen Freundeskreis und kann Kinder notfalls auch allein aufziehen. Tila Pronk: "Das hat viele Vorteile; man ist zusammen, weil man sich füreinander entscheidet, und nicht, weil man es muss. Die Kehrseite dieser Freiheit jedoch ist, dass man mehr über gegenseitige Erwartungen reden muss."
Laut Esther Kluwer passe "Autonomie in Verbundenheit" am besten zu un-seren heutigen Langzeitbeziehungen. "Sichere Verbundenheit bleibt die Basis, aber zugleich wollen wir autonom sein. Und damit meine ich nicht, dass wir alles tun, wonach uns der Sinn steht, und wir keine Rücksicht auf den anderen nehmen. Es geht vielmehr um Authentizität; man selbst sein zu können in einer Beziehung. Das Gefühl zu haben, dass das eigene Handeln und Entscheiden auch zu einem selbst passt. Wird man zu sehr eingeschränkt, macht das unglücklich, man fühlt sich kontrolliert und unfrei. Die Verbundenheit sorgt jedoch dafür, dass man nicht über die Stränge schlägt und grundsätzlich nur für sich selbst entscheidet. Auch der Partner darf schließlich
sein, wer er ist."
Aber was tut man, wenn man anderes will als der Partner? Zum Beispiel gern zusammenwohnen möchte, der andere jedoch nicht? Oder die Vorstellung, der Partner könne mit jemand anderem ins Bett gehen, unerträglich findet – während sich Monogamie für ihn unnatürlich anfühlt? Kluwer: "Gehen die Meinungen auseinander, führt das meist dazu, dass man sich entweder besonders vehement gegen die Wünsche des anderen auflehnt oder, im Gegenteil, zu sehr von ihnen leiten lässt. Das Paar gerät in einen emotionalen Strudel, in dem es vor allem aufeinander reagiert. Sie können stattdessen aber auch autonom bleiben und denken: Das hier sind meine Bedürfnisse und das die Bedürfnisse meines Partners – wir müssen sehen, wo wir uns treffen können. Liebespartner nehmen sehr viel Rücksicht aufeinander, und das ist wunderbar, solange sie zugleich dafür sorgen, sich selbst nicht zu verlieren. Studien zeigen, dass sich jeder Partner, ist die Autonomie innerhalb der Beziehung gut entwickelt, für sich selbst verantwortlich fühlt und den anderen nicht für die eigene Unzufriedenheit verantwortlich macht."
Dazu sei es notwendig, eine gute Beziehung zu sich selbst zu haben. Man müsse wissen, wer man ist und was die eigenen Bedürfnisse und Wünsche sind. Kluwer: "Das ist ein Lernprozess, und es ist nicht sofort klar, wenn man sehr jung ist. Zudem kann es sich mit der Zeit ändern. Eine Beziehung, die man mit Anfang 20 eingeht, sieht mit 40 sehr anders aus. Menschen ändern und entwickeln sich. Und manchmal eben in unterschiedliche Richtungen.“"
In Freiheit und Verbundenheit
Ob das bei meinem Freund und mir geschehen wird, wissen wir natürlich nicht. Ab und zu gerät die Liebe durch Jobstress, Haushaltszwists und andere Dringlichkeiten etwas in den Hintergrund. Dann müssen wir wieder einen Abend lang intensiv Verbindung zueinander suchen. Und wer weiß, vielleicht zeigt sich, dass wir eifersüchtiger sind, als wir glauben, sobald einer von uns fremdflirtet. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir zusammenbleiben, aber wir wollen es sehr gern. Und wir glauben so sehr daran, dass wir uns entschieden haben - wie traditionell! - zu heiraten. In Freiheit und Verbundenheit, bis dass das Leben uns scheidet.
Quellen u. a.: M. Haupert u. a., Prevalence of experiences with consensual nonmonogamous relationships, Journal of Sex & Marital Therapy, 2017 / E. Perel, Wild Life. Die Rückkehr der Erotik in die Liebe, Pendo, 2006 / J. Wood u. a., Reasons for sex and relational outcomes in consensually nonmonogamous and monogamous relationships, Journal of Social and Personal Relationships, 2018
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