Familiengeheimnis: "Wir wissen nicht, ob unsere Mutter die Wahrheit sagt"
Kiki (48) und ihr Halbbruder Arnd haben verschiedene Väter. Das wissen sie schon lange. Aber es hat die Familie zerrissen, dass nie klar war, wer Arnds Vater ist
Wir waren als Kinder zu dritt: Arnd, Jan und ich. Arnd ist elf Jahre älter als ich, Jan drei Jahre. Ich wusste, dass Arnd schon auf der Welt war, als meine Eltern heirateten, aber das hat mich nie stutzig gemacht.
Ich ging noch in die Grundschule und Arnd wohnte schon nicht mehr zu Hause, als eine Nachbarin meinte: "Weißt du, dass Arnd dein Halbbruder ist?" Keine Ahnung, warum sie das tat. Ich ging damit natürlich zu meiner Mutter. "Dieses Miststück!", rief sie wütend.
Sie sei mit 21 von ihrem Freund schwanger geworden, erzählte meine Mutter. Eine Schande damals. Außerdem wollte er sie nicht heiraten. Sie musste ausziehen und in ein Heim für ledige Mütter. Dort ist Arnd geboren, dort hat er auch gewohnt. Nach seiner Geburt musste meine Mutter wieder Geld verdienen, auch für Arnd. Unter der Woche wohnte sie bei ihren Eltern im Dorf, wo sie einen Job hatte – das erlaubten sie, der dicke Bauch war ja weg –, und am Wochenende war sie bei Arnd.
Ich weiß nicht, ob er wirklich versteckt wurde, aber in den ersten Jahren durfte er nie mit zu den Großeltern. Trotzdem wusste man im Dorf Bescheid. Meine Mutter erzählte mir mal, dass im Bus zwei Damen hinter ihr geflüstert hätten: "Das ist die mit dem unehelichen Kind."
Mein Vater hat immer von Arnd gewusst, er war mit dem damaligen Freund meiner Mutter befreundet. Von dem Moment an, als mein Vater mit ihr zusammenkam, fuhr er immer mit ins Heim. Auf dem Moped, mit ihr hinten drauf. Für ihn wurde Arnd zum Sohn, er hat ihn später auch als solchen anerkannt. Als Arnd sieben war, zogen sie zusammen und wurden eine Familie.
Arnd wusste, dass er im Heim war, er erinnerte sich auch daran. Ob ihm auch klar war, dass mein Vater nicht seiner war, bevor die Nachbarin davon anfing, kann ich nicht sagen. Verrückt – ich habe ihn nie danach gefragt.
Wir hatten immer eine besondere Beziehung. Bei ihm war mein zweites Zuhause, er nahm mich mit in den Zoo oder ins Kino. Mit ihm erlebte ich viel mehr als mit meinen Eltern, die nur arbeiteten. "Mein allerliebstes Schwesterlein", nannte er mich. Ein Scherz, er hatte ja nur eine. Später zog er beruflich ins Ausland, und wir schrieben uns Briefe. Ich erzählte ihm alles über mein Leben. Damals entstand meiner Meinung nach bei Arnd der Wunsch, zu wissen, wer sein Vater ist. Er wohnte in einem Komplex mit Mitarbeitern internationaler Unternehmen. Meine Eltern sind Arbeiter, Arnd bewegte sich in anderen Kreisen und fühlte sich dort wohl. Damals sagten wir oft zu ihm: „Vergiss nur nicht, woher du stammst.“ Wahrscheinlich beschäftigte ihn seine Herkunft auch mehr, weil er gerade selbst Vater wurde.
Endlich verriet unsere Mutter den Namen ihres damaligen Freundes. Arnd fand ihn, und er war bereit, sich einem DNA-Test zu unterziehen. Dabei stellte sich heraus, dass er nicht der Vater war! Ab da wurde es schwierig: Meine Mutter traute dem Ergebnis nicht, da niemand Zeuge war, als ihr Ex sein Blut abgab. Arnd war überzeugt, dass sie lügt. Und dann rückte sie tatsächlich den Namen eines weiteren Mannes heraus. Auch zu ihm nahm Arnd Kontakt auf. Schon verrückt, wie eine solche Suche Familien aufschreckt. Der zweite war sehr nett. Er hat es zu Hause sofort erzählt und wollte auch Jan und mich kennenlernen. Das Schräge war, dass Arnd ihm – nach meinem Dafürhalten – sehr ähnelte. Aber auch er war nicht sein Vater.
Da dachten wir: Okay, Mama, wie wild war dein Leben eigentlich? Ich sagte zu ihr: "Wenn du in der Zeit mit mehreren Männern geschlafen hast, verstehen wir ja, dass du nicht mehr weißt, von wem Arnd ist, aber dann sag es wenigstens." Eine andere Möglichkeit war, dass damals etwas Schlimmes passiert ist. Etwas, das sie so sehr verdrängt hat, dass sie ihre eigene Wahrheit irgendwann selbst glaubte. Sogar das habe ich sie gefragt: "Ist etwas in der Familie passiert? Wurdest du vergewaltigt?" Nein, nichts dergleichen, sagte sie. "Der Mann, den ich euch zuerst genannt habe, ist der Vater."
Eigentlich hätte der DNA-Test wiederholt werden müssen, aber für Arnd war das keine Option. Er wollte, dass meine Mutter mit der Wahrheit rausrückte.
Von da an gab es ständig Streit, denn Arnd ließ nicht locker. Jan und ich verstanden ihn. Ich war auch eine Zeit lang wütend, habe unsere Mutter angeschrien: "Es ist doch normal, dass man wissen will, wer der eigene Vater ist! Wen schützt du?" Wir warben bei ihr auch dafür, Verständnis für Arnd zu haben. Sagten: "Du hast dich als Baby für ihn entschieden, und sieh nur, wie weit er es gebracht hat! Geh auf ihn zu, sonst verlierst du ihn noch."
Weihnachten 1996 kamen wir zum letzten Mal alle zusammen, danach brach Arnd den Kontakt ab. Er warf uns vor: Ihr schlagt euch zu sehr auf Mamas Seite. Wir beteuerten, dass wir Kontakt zu ihnen beiden haben wollten. Aber er erwartete mehr Loyalität von uns.
2009 kontaktierte ich ihn noch einmal. Ich machte nach dem Tod meines Vaters gerade eine Trauertherapie und wurde dabei auch vom Kummer über die Funkstille mit Arnd überrollt. Er stimmte einem Gespräch zu. Ich sagte ihm, dass ich ihn verstehe und sicher weiß, dass Mama ihn sehr liebt. Er erklärte mir, er halte Abstand, weil er sich selbst und seiner Familie weitere Streitigkeiten ersparen wolle. Und er wiederholte, was er schon oft gesagt hatte: Er wäre zum Reden bereit, wenn Mama den ersten Schritt täte. Als er mich nach Hause brachte, fragte ich: "Sehen wir uns weiter, oder war es das?" Er sagte: "Es ist gut, wie es ist."
Ich habe meinen Frieden damit gemacht, es ist für jeden das Beste. Sonst kochen die Emotionen immer wieder hoch, auch bei mir. Ich vermisse Arnd ganz furchtbar, aber bin froh, dass wir uns ausgesprochen haben. Und ich weiß: Wenn ich ihn um Hilfe bitten würde, stünde er sofort vor meiner Tür. Zwischen mir und meiner Mutter flackert das Thema noch manchmal auf. Mir fällt es noch immer schwer, zu verstehen: Was kann so bedeutend sein, dass es wichtiger ist als der Kontakt zum eigenen Sohn?
Mich schmerzt, dass eigentlich jedem Unrecht getan wurde. Meinem Bruder, weil er nicht weiß, wer sein Vater ist. Aber auch meiner Mutter, denn sie hatte sich ja damals für ihn entschieden, und jetzt hat sie ihn verloren. Tief in ihrem Herzen hätte sie es so gern anders gewollt. Sie spricht oft von Arnd. Und auch, wenn sie dann sagt, er könne ihr gestohlen bleiben, glaube ich, dass sie ihn insgeheim am meisten von uns allen liebt.
Alle Namen wurden geändert.
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In jeder Ausgabe von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter enthüllen wir ein neues Familiengeheimnis. Dieser Artikel ist in Ausgabe 4/2019 erschienen. Das ganze Heft können Sie am Kiosk kaufen oder direkt im Shop bestellen.