Familiengeheimnis: "Meine Oma ist alles andere als friedlich eingeschlafen"
Ihre Lieblingsoma sei im Schlaf gestorben, erzählte man Monika*, als sie ein Kind war. Trotzdem spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Erst zehn Jahre später erfuhr sie die schreckliche Wahrheit
Sieben Jahre war ich alt, als meine Eltern mir eröffneten, dass meine Oma mütterlicherseits gestorben sei. Friedlich neben Opa eingeschlafen, hieß es. Doch ich weiß nicht wieso, aber ich spürte sehr deutlich, dass da etwas nicht stimmte. Es wurde nie mehr über sie gesprochen, aber ich fragte meine Eltern trotzdem immer wieder: "Mama, Papa, erzählt noch einmal, wie Oma gestorben ist." Und sie tischten mir die immer gleiche Geschichte auf, Jahr für Jahr.
Meine beiden Brüder waren zu klein, um nach Oma zu fragen. Aber gerade weil meine Mutter so wenig sagte, versuchte ich es immer wieder. Meine Mutter war sehr verschlossen, ein Arbeitstier, das für die Familie lebte. Freundinnen hatte sie nicht. Dennoch wuchs ich nicht in einer Kultur des Schweigens auf: Mein Vater stammte aus einer warmherzigen Familie und redete viel von früher. Ich glaube, sie hatte es mit meinem Vater sehr gut getroffen; er war ein geselliger und gesprächiger Mann.
In meiner Erinnerung war Oma eine sehr liebe Frau, und es berührte mich, dass nie mehr jemand über sie sprach, auch nicht, als mein Opa wieder heiratete. Als ich 17 war, fragte ich meine Mutter noch einmal, wie Oma gestorben sei. Plötzlich war die Antwort: "Ich will nicht darüber reden." Ich war davon ausgegangen, wieder die Standardgeschichte zu hören – und nun diese seltsame Reaktion! Das schockierte mich, ich dachte, Oma sei etwas Schlimmes zugestoßen. "Mama, hatte sie etwa Krebs?", fragte ich. Die Krankheit war damals ein Tabu, und als behütet aufgewachsenes Kind war das offenbar das Einzige, was mir einfiel. Meine Mutter antwortete nicht.
Später am Abend aber nahm sie mich zur Seite. Es war schon dunkel. Wir gingen eine Runde spazieren. Mein Vater blieb bei meinen Brüdern. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, aber es war aufregend. Meine schweigsame Mutter, die plötzlich mit mir reden wollte. Dort, in einer der ruhigen Dorfstraßen, erzählte sie mir, dass meine Oma Selbstmord verübt hatte. Das war damals das einzige Wort, das es dafür gab, nicht "Selbsttötung" oder "Suizid", was weniger hart klingt.
Ich war tief erschüttert. Und offensichtlich immer schon neugierig, denn ich fragte: "Wie denn?" Es falle ihr schwer, das zu erzählen, sagte sie. Bis heute bin ich immer noch erstaunt, dass sie es trotzdem getan hat, so plötzlich, nach all den Jahren. Meine Großmutter hatte sich mit Benzin übergossen und angezündet. Meine Mutter legte mir ans Herz, nicht darüber zu reden, da niemand davon wusste. Jetzt war es auch mein Geheimnis.
Lange beschäftigte mich die Frage, wie man es schaffen kann, sich selbst anzuzünden. Was hat sie gedacht, was gefühlt, als sie das tat, meine liebe 70-jährige Oma? Sie war eine fromme Frau, die täglich in die Kirche ging.
Ich hatte meinen Mann frisch kennengelernt, als wir vor dem Kamin saßen und ich ihm erzählte, wie dramatisch meine Oma gestorben war. Er ist sehr katholisch und meinte, dass Feuer eine reinigende Wirkung zugesprochen wird. Plötzlich sah ich es erstmals aus ihrer Sicht. Hat sie sich als Sünderin gefühlt, sich befreien wollen? Jahre später erzählte meine Mutter es auch meinen Brüdern. Aber für den Rest der Familie blieb es ein Geheimnis.
Was mir blieb: Die Frage nach dem Warum. Warum hatte Oma das getan? Warum tat sich ihre Tochter mit dem Thema so schwer? Ich glaube, meine Mutter war verbittert. Als Kleinkind musste sie zwei Jahre in eine Pflegefamilie, weil Oma krank war. Und mit zwölf übernahm Mama den Haushalt, weil meine Oma ab und an in einer Klinik war. Warum? Auch darüber redete niemand.
Und dann wurde ich selbst schwanger, mit Zwillingen. Ich genoss die Zeit, war sehr glücklich. Aber nach der Geburt meiner Jungen erkrankte ich schwer. Man diagnostizierte eine postpartale Psychose, wies mich in die Psychiatrie ein. Es ging um eine wirklich schwere Psychose, die zwei bis drei Tage nach der Geburt auftreten kann, jedoch sehr selten ist. In dem Moment konnte ich die Verbindung natürlich nicht herstellen, aber als ich aus der Psychose herauskam, wurde mir klar, dass das auch meiner Großmutter passiert war. Psychische Krankheiten – die waren damals ja ein großes Tabu.
Wenn ich meine Mutter manchmal fragte, ob sie als Kind auch tolle Dinge erlebt hatte, sagte sie: "Nein, ich habe nichts Schönes erlebt." Sie hat immer abwehrend reagiert, wenn ich sie über das Leben meiner Großmutter ausfragte. Als ob auch das ein Geheimnis wäre.
Man hatte mir meine Oma genommen, so fühlte es sich an. Es gibt bestimmt Menschen, die sich nicht dafür interessieren, aber ich liebe Fernsehsendungen, in denen Leute ihre Herkunft erforschen. Die Fotos, die ich von Oma kannte, stammten aus den Fünfzigerjahren. Sie waren so klein, dass alle Köpfe wie Stecknadeln wirkten. Daraus bekommt man kein Gefühl für ihre Persönlichkeit. Aber vor ein paar Jahren fand ich im Haus meiner Eltern ein besseres Foto von ihr. Sie hatte darauf liebe, sanftmütige Augen, und das passte einfach nicht zu den Geschichten meiner Mutter. Ich verstehe, dass sie ihre schwierige Kindheit nicht breittreten will, aber es war meine Oma. Und die war einfach krank, daran konnte sie nichts ändern.
Lange trug ich meiner Mutter nach, dass sie – so dachte ich – mich anlog. Jetzt, da ich selbst über 50 bin und so viel erlebt habe, kann ich es nachvollziehen. Damals war Suizid nichts, was man auf Familienfeiern besprach. Dazu die Art, wie sich Oma das Leben genommen hatte – das ist wahrlich nicht leicht zu erzählen.
Was genau ihr gefehlt hat? Das weiß ich immer noch nicht. Dass es eine erbliche Komponente gibt, ist sicher. In meinem weiteren Familienkreis sind mehrere Leute suizidgefährdet. Vielleicht würde es ihnen helfen, die Geschichte meiner Großmutter zu kennen. Aber als ich vor ein paar Jahren einigen Cousins davon erzählte, sagten sie, sie hätten es lieber nicht gewusst.
Es ist jetzt genau einhundert Jahre her, dass sie geboren wurde. Ihr psychisches Leiden, ihr schwieriges Leben und die Art, wie sie es verlassen hat, haben mich elementar geprägt. Vor allem, dass so beharrlich über sie geschwiegen wurde – als hätte es sie nie gegeben. Aber egal, wie viele Probleme ich selbst hatte oder noch haben werde, eins habe ich mir stets fest vorgenommen: Ich werde meinem Leben nie selbst ein Ende bereiten.
*Monika heißt in Wirklichkeit anders.
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Dieser Artikel ist in Ausgabe 02/2019 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das komplette Heft können Sie gleich hier im Shop bestellen.