Familiengeheimnis: "Meine Nichte weiß nicht, dass sie aus einer Samenspende stammt"
Iris (45) hat versprochen, keinem zu erzählen, dass ihre Schwester von einem anonymen Samenspender schwanger geworden ist. Aber jetzt, da die kleine Tochter heranwächst, findet Iris es wichtig, dass sie die Wahrheit erfährt
Vor allem an Meikes Geburtstagen fühle ich mich unwohl. Dann denke ich: Wenn ihr wüsstet, wer hier Geburtstag hat, wer dieses Mädchen ist … Nicht die Tochter von meiner Schwester Judith und Martin, sondern die Tochter von Judith und einem anonymen Samenspender. Dann schaue ich in die Runde und denke: Die weiß es, der weiß es nicht. Meine Schwester ist inzwischen geschieden und hat es ihrem neuen Partner erzählt, aber dessen Familie ist nicht eingeweiht. Meine Töchter wissen Bescheid, aber die Töchter meines Freundes nicht. Das Schlimmste aber ist: Meike selbst weiß es nicht. Im August wird sie elf.
Das mit Judith und Martin war eine echte Jugendliebe, sie waren schon mit 15 ein Paar. Nach etwa zehn Jahren wollten sie Kinder, aber es klappte nicht: Martin war unfruchtbar. Sie entschieden sich für eine IVF-Behandlung mit Spendersamen in einer belgischen Klinik, in der Spender nicht registriert werden und anonym bleiben. Das wollte Martin so. Er schämte sich für seine Unfruchtbarkeit und wollte nicht irgendwann mit einem biologischen Vater konfrontiert werden. Sie entschieden sich bewusst für einen Spender, der wie Martin groß und schlank ist, blonde Haare und blaue Augen hat. Keiner sollte sehen, dass Martin nicht der Vater ist.
Meine Mutter bemerkte, dass Judith sehr gestresst war. Als sie fragte, was los sei, begann Judith zu weinen und erzählte die ganze Geschichte; sie hatten da schon eine ganze Reihe misslungener IVF-Behandlungen hinter sich. Natürlich fragten wir, warum sie uns nichts gesagt hatte. Nicht, dass sie dazu verpflichtet gewesen wäre, aber es tat mir schon weh, dass sie alles mit sich selbst ausmachte. Ihr Plan war, es keinem zu sagen; einfach schwanger werden und kein Hahn kräht mehr danach, dachten beide.
Judith bat uns, es geheim zu halten. Auch vor unserem Bruder und meinen Töchtern. Für meinen Freund machte sie eine große Ausnahme. Sofort spürte ich einen beklemmenden Druck auf der Brust. Mein Körper sagte: Es ist nicht richtig, so wichtige Dinge zu verschweigen. Ich hatte zudem meine Zweifel, ob es vernünftig war, sich für einen anonymen Spender zu entscheiden. Ich konnte nachvollziehen, dass Martin keinen Vater neben sich haben wollte, aber ich dachte auch ans Kind. Würde es nicht seine Wurzeln kennen wollen? Diese Chance nahmen sie ihm.
Es fiel mir schwer, Stillschweigen zu versprechen, aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich sagte: „Aus Respekt für euch schweige ich, aber ich stehe nicht dahinter.“ Meine Mutter gab dasselbe Versprechen. Sie sorgte aber dafür, dass mein Bruder es erfuhr. „Dass in der Familie ein Einziger nichts weiß, geht einfach nicht“, meinte sie.
Als Judith schließlich schwanger war, fragte ich, wie sie sich das gedacht hatte mit dem Kind, wann sie es ihm erzählen würden. Sie wimmelte mich ab, so weit sei es ja noch lange nicht. Ich dachte, sie bräuchte Zeit, und das Problem würde ihr schon bewusst werden.
Meike wurde geboren. Sie war ein Wunschkind, Judith und Martin waren verrückt nach ihr. Ich beschloss, das Thema eine Weile ruhen zu lassen. Aber als Meike vier war, kam ich darauf zurück. Ich hatte gelesen, dass man schon kleinen Kindern die Situation spielerisch erklären kann. So wie Bücher von einem toten Opa handeln, gibt es Bücher, die erklären, dass Papa nicht unbedingt der leibliche Vater sein muss. Judith aber schaltete auf stur.
Meike entwickelte derweil schwere Verhaltensauffälligkeiten. Sie weigerte sich zu essen und geriet in einen Wachstumsrückstand. Manchmal riss sie sich vor Wut die Haare aus. Sie war allzu gewünscht, dachte ich, sie hatte ihre Eltern seit ihrer Geburt um den kleinen Finger gewickelt, und die setzten keine Grenzen. Schon als Baby sollte sie entscheiden, ob sie lieber aus dem blauen oder gelben Becher trinken wollte. Unfassbar! Diese Probleme jedoch lieferten meiner Schwester eine Ausrede: „Jetzt ist wahrlich nicht der richtige Moment, um es ihr zu sagen.“ So schob sie es immer weiter hinaus.
Als Meike fünf Jahre alt war, trennten sich Judith und Martin. Meike sah Martin weiterhin, er war absolut ihr Vater. Und meine Schwester meinte, es sei abermals ein schlechter Moment, davon anzufangen. Kurz danach wollte ich es vor meinen Töchtern, die mittlerweile Teenies waren, nicht länger geheim halten. Auch sie merkten, dass etwas nicht stimmte mit Meikes Erziehung, und hatten den Eindruck, dass sie Judith herumkommandiert. Ich gehe offen mit meinen Töchtern um, weshalb es sich wie lügen anfühlte, ihnen zu verschweigen, was ich wusste. Als ich Judith das sagte, weinte sie, aber ich konnte und wollte nicht so weitermachen.
Inzwischen ist Meike zehn. Es schmerzt mich, dass sie noch immer nicht Bescheid weiß. In meinen Augen wird so ihr wahres Sein verleugnet. Sie hat ein Recht auf die Wahrheit, auf das Wissen, dass sie noch einen leiblichen Vater hat. Heimlichkeiten mag ich nicht. Außerdem kommen Geheimnisse immer raus, dem sollte man lieber zuvorkommen.
Neulich habe ich Judith wieder gefragt: Wann erzählst du es ihr? „Jetzt ist sie nicht im richtigen Alter“, meinte sie. Ich glaube, sie befürchtet, dass Meike sie ablehnt. Ich habe Judith ein paar Mal gefragt, wovor sie Angst hat, aber sie fing an zu weinen oder wurde wütend. Offensichtlich befürchtet sie immer noch, verurteilt zu werden. Selbst ihre beste Freundin, die sie jahrelang bei Meikes Verhaltensproblemen unterstützt hat, weiß es nicht.
Ich bin die Letzte, die es Meike sagen wird, das ist Judiths und Martins Aufgabe, ich respektiere ihre Entscheidung. Aber ich verspüre den Drang, es immer wieder mit Judith zu besprechen. Bald hat sie Geburtstag, dann lade ich sie zum Essen ein und werde wieder einen Vorstoß wagen.
Ich hoffe so sehr, dass sie den Mut findet, Meike die Wahrheit zu sagen, bevor sie in die Pubertät kommt. Man darf sich gar nicht vorstellen, dass sie es von jemand anderem erfährt. Das Risiko wird immer größer. Martin etwa hat es nach der Scheidung seiner erstbesten neuen Freundin erzählt. Inzwischen lebt er in einer festen Beziehung. Die Frau weiß es, ihre Kinder vielleicht auch. Meinen Töchtern ist klar, wie prekär die Lage ist, aber ich kann nicht garantieren, dass sie sich nie verplappern. Es braucht ja nur eine kleine Bemerkung zu sein: „Witzig, ihr lacht genau gleich, man könnte meinen, er sei wirklich dein Vater.“
Meike ist ein temperamentvolles Kind, käme sie zufällig dahinter, wäre das Leid wohl kaum absehbar. Außerdem frage ich mich, wie Judith reagiert, wenn Meike sie plötzlich konfrontiert. Nach dem Motto „Mama, stimmt es, dass …“. Vielleicht leugnet sie es knallhart. Meike war und ist sehr erwünscht, es wäre schrecklich, wenn das dadurch überschattet würde. Judith kann sich selbst befreien, indem sie es erzählt. Ich gönne ihr diese Erleichterung so sehr. //
Alle Namen im Text wurden geändert.
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Dieser Artikel ist in Ausgabe 5/2019 von PSYCHOLOGIE bringt dich weiter erschienen. Das ganze Heft können Sie am Kiosk kaufen oder direkt im Shop bestellen.