Familiengeheimnis: "Mein Leben lang hatte ich eine Schwester"
Madelon (60) und ihr Bruder entdeckten erst kürzlich, dass ihr Vater schon einmal verheiratet war – und noch ein Kind hat. Wie konnte er das nur so lange verbergen?
Rückblickend ist es verblüffend, wie oft wir die Möglichkeit einer Halbschwester oder eines Halbbruders schon erwähnt hatten, ohne von Lenies Existenz zu wissen. Bevor sich meine Eltern kennenlernten, war mein Vater eine Zeit lang in Indonesien; er war dort als Soldat im Einsatz gegen indonesische Freiheitskämpfer. Immer, wenn wir Familienfotos anschauten, machten mein Bruder Ruud und ich Witze, dass Papa als junger Mann dort bestimmt nicht nur brav gewesen war und vielleicht noch ein paar Kinder mehr mit aufs Foto gehörten. Dann lachte er überschwänglich.
Ruud kam Lenie zufällig auf die Spur. Er beschäftigte sich mit dem Stammbaum unserer Familie, den Goijaerts. Im Internet stieß er auf eine Inge Goijaerts, die er nicht kannte. Mein Bruder kontaktierte sie, und es stellte sich heraus, dass wir vor etlichen Generationen zur selben Familie gehörten. Sie teilte Ruuds Leidenschaft für Stammbäume. Schon bald dämmerte es Inge, dass der L. F. Goijaerts von 1926, der in ihrem Stammbaum vorkam, unser Vater war – und dass es damit etwas Besonderes auf sich hatte. Ohne ihre Vermutung zu äußern, erlaubte Inge meinem Bruder, unseren Zweig in das digitale Dokument ihres Stammbaums einzufügen, mit dem Hintergedanken: Dann wird er es schon selbst merken. Und so war es auch: Ruud fand unseren Vater – und neben ihm eine Frau, die er nicht kannte. Und eine Tochter.
Er schrieb mir eine Nachricht, als ich Spätschicht im Krankenhaus hatte: Kann ich dich kurz anrufen? Ich war alarmiert, denn er wollte erst mit mir sprechen, wenn ich wieder zu Hause war. Am nächsten Morgen rief er an: "Unser Vater war schon mal verheiratet." Danach blieb es kurz still. "Und wir haben eine Halbschwester." Zum Glück saß ich auf der Bettkante, sonst wäre ich hingefallen.
Ich bin nah am Wasser gebaut, aber jetzt war ich vor allem perplex. So etwas hätte ich nie erwartet, wir waren so eine normale Familie. Mein Vater hatte einen Betrieb für Parkettböden, meine Mutter kümmerte sich um uns. Hin und wieder zankten sie sich, aber ansonsten war es eine harmonische Ehe. Und dann das! Es war nie darüber gesprochen worden, nie hatte es eine Anspielung gegeben. Wie kann man so eine große Sache 60 Jahre geheim halten? Für einen Moment war mein Vertrauen weg. Ich dachte: Was stimmt vielleicht sonst noch alles nicht? Aufgebracht war ich auch. Mein Vater war immer so froh gewesen, dass ich ein Mädchen war, dabei hatte längst eine andere Tochter auf seinem Schoß gesessen? Trotzdem war ich nie wirklich wütend. Die Vorstellung, eine Schwester zu haben, fand ich auch sehr schön.
Für meinen Bruder und mich war sofort klar, dass wir das nicht verschweigen würden. Unsere große Sorge war nur, ob unsere Mutter davon wusste. Und wenn nicht – was macht eine solche Enthüllung mit einer 60-jährigen Ehe? Mama merkte schnell, dass irgendwas los war. Wir sind alle auf Facebook, weil zwei meiner Kinder im Ausland wohnen. Ruud hatte darüber Lenie kontaktiert, sie hatten sich als Freunde hinzugefügt, sie hatte eins seiner Fotos geliked. Also fragte Mama: "Wer ist Lenie Goijaerts?"
An einem Sonntagmorgen fuhren Ruud und ich unangemeldet zu unseren Eltern. Beim Kaffee sagte ich: "Mama, du hast gefragt, wer Lenie ist, hast du selbst eine Idee?" Ruud ergänzte: "Eigentlich heißt sie Leonarda." Da grinste mein Vater: "Dann könnte das durchaus eine uneheliche Tochter von mir sein." Danach erzählte er, was seinerzeit geschehen war. Inge und er waren erst kurz ein Paar, als sie ungeplant schwanger wurde. Kurz darauf musste er nach Indien, und sie hatten geheiratet, damit sie als Frau eines Soldaten Anspruch auf staatliche Unterstützung hatte. Lenie wurde geboren, während er in Indien war. Sein Schwager teilte ihm mit, dass seine Frau einen anderen hatte. Als er wieder zu Hause war, hat er sie noch einmal getroffen und ihr gesagt: "Wenn das stimmt, möchte ich dich nie wiedersehen." Da ging sie. Und für ihn war das die Rechtfertigung, die Beziehung zu vergessen. Lenie hat er nie kennengelernt.
Meine Mutter reagierte wortkarg an diesem Sonntagmorgen. Sie kommt aus einer Gegend, deren Menschen Probleme nie nah an sich heranlassen. Sie wusste, dass Papa schon mal verheiratet war – und dass es da auch ein Kind gegeben haben könnte, sei doch logisch, oder? So hat sie es für sich zurechtgebogen. Persönlich finde ich es schwierig, dass Papa sich nie mehr um Lenie gekümmert hat. Es ist doch schon höchst merkwürdig, dass man wegen eines einzigen Gerüchts seine Familie fallen lässt? Vielleicht gab es ja gar keinen anderen Mann? Als ich ihn einmal danach fragte, blieb er steif und fest bei seiner Geschichte. Zum Glück ist Lenie selbst recht nüchtern, was das angeht. Wir seien alle nicht dabei gewesen, sagt sie.
Mein Bruder und ich trafen Lenie zuerst – bei Ruud zu Hause. Es war ein erstes Herantasten. Wir umarmten einander, saßen nebeneinander auf dem Sofa, aber waren uns natürlich völlig fremd. Es gibt ein Foto von diesem Nachmittag, darauf kann man die Unbehaglichkeit gut erkennen. Wir lachen, aber mit angespannten Gesichtern. Lenie erzählte, sie habe von unserer Familie gewusst. Sie wusste, dass ihr Vater gelernter Zimmermann war. Einmal hatte sie im Telefonbuch einen "Goijaerts, Zimmermann" gefunden. Sie hatte nicht das Bedürfnis, ihn aufzusuchen, denn sie dachte: Wenn er nicht nach mir sucht, warum soll ich ihn finden wollen? Der Meinung war sie auch an jenem Nachmittag. Nach zwei Wochen drängte ich sie aber doch dazu, denn Papa war ernsthaft krank und leicht dement: "Wenn du ihn noch sehen willst, musst du schnell machen."
Im November 2013 trafen sich Papa und Lenie endlich. Trotz der Kälte wollte Papa auf dem Balkon stehen. Er schickte uns alle weg. "Ich will mit ihr allein sein." Wir konnten sie vom Wohnzimmer aus beobachten. Sie umarmten sich. Er strahlte, und sein Blick war so unglaublich warm. Mein Mädchen, sagten seine Augen. Ein wunderbarer Moment. Danach saßen sie noch eine Viertelstunde draußen und redeten. Später begriff ich, dass Vater ihr da erzählte, wie es seiner Ansicht nach damals gelaufen war. Sie hat nie mit ihm darüber diskutiert, sie konzentrierte sich auf das, was nun war.
Seither gehört Lenie zur Familie, sie ist bei jedem Geburtstag oder anderen Gelegenheiten dabei. Lenies Mutter konnten wir nicht mehr kennenlernen, sie war schon gestorben. Die anderen aus unserer Familie mussten sich erst daran gewöhnen. Für meine im Ausland lebenden Kinder beispielsweise war Lenie noch eine Fremde, als ich sie schon umarmte und sehr vertraut war mit ihr. Mutter ist Lenie gegenüber herzlich, aber sie sagt: Das ist nicht mein Kind, das ist eure Angelegenheit. Für mich, Ruud und unsere Partner gehört sie vollkommen dazu. Das ging ziemlich mühelos, auch weil sie so entspannt ist.
Lenie war dabei, als Papa starb. Sie stand auch auf der Trauerkarte. Während wir die Beerdigung organisierten, fragte der Bestatter meine Mutter: "Waren Sie oder Ihr Mann schon einmal verheiratet?" Ich musste lachen, obwohl es ein sehr merkwürdiger Moment war. Ich sagte: "Hättest du es uns sonst jetzt erzählt?" Ich bin froh, dass es nicht so gelaufen ist, und vor allem freue ich mich für Lenie, dass wir sie noch rechtzeitig gefunden haben. Nach jenem ersten Treffen auf dem Balkon hatten sie und Papa noch ein ganzes Jahr zusammen.