Bindungstraining bietet Hilfe für Alleinerziehende
Ein-Eltern-Familien haben oft mit besonderen Belastungen zu kämpfen. Um ihnen zu helfen, hat Prof. Dr. med. Matthias Franz mit seinem Team das Bindungstraining "wir2" entwickelt. Im Interview verrät er, wie Alleinerziehende am besten mit den Herausforderungen des Alltags fertig werden
Alleinerziehende sind besonderen Belastungen ausgesetzt, vor allem im Vergleich zu Paaren, die ihre Kinder gemeinsam großziehen. Welche sind das?
Es gibt zwei Herausforderungen, mit denen Alleinerziehende zu kämpfen haben: Armut an Geld und Armut an Beziehungen. Und das sind aus psychosomatischer Sicht die zwei großen Krankmacher.
Wie kommt es denn zu dieser zweifachen Armut?
Da deutlich mehr Frauen als Männer alleinerziehend sind, beziehe ich mich hier vor allem auf Frauen. Man muss sich mal fragen: Was bedeutet es für eine Frau, ein Kind zu bekommen? Aus medizinischer Sicht ist das eine Vollumstellung von Körper, Geist und Emotionen in einen ganz neuen Gesamtzustand. Alle Sinne der Mutter sind plötzlich auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet. Wenn ich meine ganze Energie auf das Überleben eines Babys fokussieren muss, ist es normal, dass ich meinen Alltag und meinen Beruf nicht mehr mit derselben Intensität bewältigen kann. Als Mutter braucht man Unterstützung, besonders wenn die Kinder klein sind. Und die finden Alleinerziehende oft nicht, weil Gesellschaft und Politik diese Bringschuld nicht ausreichend einlösen.
Das heißt, für alles alleine verantwortlich zu sein führt zu diesen Problemen?
Genau das ist der Punkt! Viele alleinerziehende Mütter sind nämlich nicht nur alleinerziehend, sondern auch alleingelassen. Das ist im evolutionären Design unserer Gattung aber eigentlich gar nicht vorgesehen. Jede Mutter hat ein Anrecht darauf, selbst „bemuttert" und von ihrer Bezugsgruppe verständnisvoll unterstützt zu werden. Kommt dann womöglich noch ein heftiger Konflikt mit dem Vater des Kindes dazu, wird es eng.
Was haben diese enormen Belastungen für Folgen?
Alleinerziehende Mütter sind deutlich häufiger krank. Man kann fast jedes Krankheitsbild untersuchen– alleinerziehende Mütter leiden häufiger oder stärker daran als Mütter in Paarbeziehungen. Das gilt vor allem für psychosomatische Erkrankungen wie chronische Schmerzen, Depressionen, Abhängigkeits- und Angsterkrankungen. Allein für Depressionen ist das Risiko alleinerziehender Mütter zwei- bis dreifach höher als für Mütter in Partnerschaft.
Welche Auswirkungen haben die Probleme der Mutter auf das Kind?
Mitunter schwerwiegende. Wenn eine Mutter längere Zeit depressiv ist, geht es auch dem Kind nicht gut. Bei der Mutter ist dann die Fähigkeit, bei sich und ihrem Kind Affektsignale und Gefühle wahrzunehmen, beeinträchtigt, dem Kind zu zeigen „Hey, ich fühle mit dir und verstehe dich, ich bin für dich da!“. Das Kind wird dann entweder selbst depressiv oder versucht die Mutter zu therapieren und rutscht dabei in ein kindliches Burn-out, das von außen oft als Verhaltensstörung des Kindes missverstanden wird.
Wie geht man als Alleinerziehende am besten mit dem Druck um?
Ganz klar: indem man sich Hilfe holt. Nicht allein zuhause sitzen bleibt, sondern rausgeht, mit dem Hausarzt spricht, mit Familienberatungsstellen, mit anderen Betroffenen, die sich im VAMV, dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter, zusammengeschlossen haben, mit Anlaufstellen in den Jugendämtern. Oder eben das Elterntraining "wir2" nutzt, das es seit etlichen Jahren in vielen Städten gibt.
Erklären Sie mal, was ist denn "wir2"?
Das Programm "wir2" basiert auf der Bindungstheorie und Erkenntnissen zur frühkindlichen Affektentwicklung. Über zwanzig Gruppensitzungen hinweg geht es darum, der Mutter so schnell wie möglich aus einer Depression herauszuhelfen und ihr zu zeigen, wie sie sich anschließend am besten auf die Bedürfnisse und Gefühle des Kindes einstellen kann. Das Programm kann entweder wohnortnah über ein knappes halbes Jahr hinweg einmal wöchentlich oder in einer sechswöchigen psychosomatischen Reha absolviert werden. Für die Mutter ist "wir2" komplett kostenlos.
Was genau passiert denn bei diesem Programm?
"wir2" besteht aus vier Stationen. Im ersten Teil geht es darum, dass die Mutter ihre eigenen Gefühle wieder erspürt: Wie komme ich hier her? Wie geht es mir? Wie fühlt sich mein Leben für mich an? Welche Erwartungen soll und welche will ich erfüllen? Was hat das vielleicht mit meiner eigenen Biographie zu tun? Dabei ist die stützende Kraft der Gruppe sehr wichtig. Erst wenn ich das verstehe, kann ich mich im zweiten Teil damit beschäftigen, was mein Kind von mir braucht. Ich nutze gerne das Bild der Sauerstoffmaske im Flugzeug: Zuerst sich selbst helfen, dann dem Kind. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Gesamtsituation der Familie. Hier geht es auch um den Vater des Kindes, der für die Entwicklung des Kindes ebenfalls sehr wichtig ist! Wir helfen den Müttern dabei, eine kindorientierte Beziehung zum Vater herzustellen und ihren Streit mit ihm nicht wichtiger zu nehmen als das Bedürfnis des Kindes zu beiden Eltern eine gute Beziehung zu haben. Das alles geschieht in intensiven Gruppenübungen, Rollenspielen und Phantasiereisen und wird Zuhause durch sehr anrührende Mutter-Kind-Übungen ergänzt.
Und im vierten Teil?
Im vierten Teil geht es um die Frage, wie man sich den Alltag insgesamt angenehmer und weniger stressig gestalten kann. Wie man in ihn mehr Ruhe und Genuss integriert. Der Fokus liegt insgesamt aber stark auf Gefühl und Affekt. Wir wollen, dass sich die Alleinerziehenden nachhaltig spüren lernen und so eingefahrene und oft auch selbstschädigende Muster verändern. Auswendig gelernte Ratschläge – Billigtrost – verändern nichts.
Welche Effekte hat das Programm?
Die Effekte sind sehr eindrucksvoll. Wir haben das wissenschaftlich untersucht und festgestellt, dass das Programm "wir2" deutlich besser wirkt als chemische Antidepressiva. Die Mütter kommen aus ihrer Depression heraus und bleiben auch ein Jahr nach Beendigung des Programms beschwerdefrei. Und auch die Kinder merken, dass es ihrer Mutter besser geht. Fast alle Teilnehmerinnen würden das Programm weiterempfehlen.
Über "wir2": Das Bindungsprogramm "wir2" stärkt Alleinerziehende und ihre Kinder. Es ist nicht nur für Mütter, sondern auch für Väter empfehlenswert. Entwickelt wurde das Konzept an der Uniklinik Düsseldorf unter der Leitung von Prof. Dr. med. Matthias Franz. Unterstützt wird das Programm von der gemeinnützigen Walter Blüchert Stiftung mit Sitz in Gütersloh, bei der man sich auch darüber informieren kann: www.bindungstraining.de