Aufwachsen bei geistig behinderten Eltern
Kindergeburtstag feiern, gemeinsam essen: Das haben geistig behinderte Eltern selbst nie erlebt. Wie und wo finden sie Hilfe und Unterstützung?
"Es ist Humbug, zu glauben, ein Mensch mit Lernschwierigkeiten dürfe generell kein Kind erziehen", sagt Stefanie Bargfrede, Diplom-Behindertenpädagogin und Expertin für das Thema Elternschaft geistig behinderter Menschen. Unter einer geistigen Behinderung versteht man einen IQ unter 70. Eine genaue Definition ist dennoch schwierig: Medizinisch ist vor allem die "Intelligenzminderung" relevant, andere Definitionen schließen auch soziale Einschränkungen ein. Bargfrede: "Wo will man da die Grenze ziehen, bei der man ein Kind in Obhut nimmt: Hat der Elternteil einen IQ von 68, kann er sein Kind nicht großziehen, aber bei einem IQ von 71 ist das noch okay? Zumal es ja auch ein Trugschluss ist, dass ein Kind es in einer Pflegefamilie automatisch besser hat."
Hinzu kommt: Kinder zu bekommen ist ein Menschenrecht. Laut Artikel 23 der UN-Behindertenrechtskonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dürfen diese selbst bestimmen, ob sie Kinder möchten. Und wenn sie sich für Kinder entscheiden, haben sie Anspruch darauf, bei der Erziehung unterstützt zu werden, durch Informationen und Aufklärung.
Es sei unstrittig, dass geistig behinderte Eltern Hilfe benötigen und ihre Einschränkung eine Gefährdung fürs Kind darstellen kann, sagt Bargfrede. Zudem dürfe die Behinderung nie ein Bonus sein: Das Kindeswohl muss immer an erster Stelle stellen.
"Können geistig behinderte Eltern den Kindesbedürfnissen nicht gerecht werden, liegt das aber meist nicht an ihrer Intelligenz – sondern daran, dass sie nie gelernt haben, was diese Bedürfnisse sind", so Bargfrede. "80 Prozent von ihnen sind selbst in desolaten Verhältnissen aufgewachsen, in Heimen, bei lieblosen Pflegeeltern, sie wurden vernachlässigt, viele sexuell missbraucht. Gemeinsam essen, Kindergeburtstag feiern: Das haben sie selbst nie erlebt, wissen darüber also schlichtweg nicht Bescheid."
Geistig behinderte Eltern können Erziehungskompetenzen durchaus erlernen, ergab auch die Studie der Niederländerin Marja Hodes, klinische Psychologin und Orthopädagogin. "Wenn diese Eltern bei der Erziehung unterstützt werden, sie auf ein soziales Netzwerk zurückgreifen können und sich trauen, um Hilfe zu bitten, und diese akzeptieren, kann die Erziehung ihrer Kinder gut gelingen", so Hodes. Dabei sei das Vertrauen der Hilfsinstanzen essenziell. "Im Idealfall sollten Eltern dauerhaft Sozialarbeiter zur Seite gestellt bekommen, die sie begleiten und die einspringen, wenn es nötig ist. In der kleinkindlichen Trotzphase, wenn das Kind in die Schule kommt, in der Pubertät – in jeder neuen Phase müsste zusätzliche Unterstützung geboten werden. Automatisch, ohne dass alles erst aus dem Ruder laufen muss. Mit der richtigen Begleitung können Eltern ihrem Kind gegenüber empfindsamer werden und sind so weniger von der Erziehung gestresst."
Hilfe zur Selbsthilfe: Das ist der Ansatz, den der Verein Lebenshilfe Bremen verfolgt, für den Stefanie Bargfrede arbeitet und der mehr als 1000 Menschen mit Behinderung im Alltag unterstützt. Lange hieß es da: Hilfe für Eltern mit geistiger Behinderung mühsam querzufinanzieren, über das Jugendamt, die Eingliederungshilfe oder Sozialpädagogische Familienhilfe. Seit 2012 aber hat die Lebenshilfe als bundesweit erster Träger mit der Senatorischen Behörde eine offizielle Leistungsvereinbarung über die von ihnen entwickelte "Unterstützte Elternschaft" abgeschlossen. Sprich: Ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat bereiten sie geistig behinderte Eltern auf ihre neue Rolle vor, beraten im ersten Jahr engmaschig, aber auch danach bis zum 18. Lebensjahr des Kindes zur altersgemäßen Förderung, leiten dazu an, dass der Nachwuchs gut versorgt und betreut wird. Indem sie all das in kleinen Schritten üben, ohne die Eltern zu überfordern.
Dazu gehört auch mal, klarzumachen, dass ein Baby es nicht böse meint, wenn es an Haaren zieht. Oder Aufklärung im Sinne von: Was ist das eigentlich, wovon das Jugendamt spricht – Kindeswohlgefährdung? "Eine behindertenpädagogische Ausbildung ist dabei essenziell, man muss über beides Bescheid wissen: was Menschen mit Lernschwierigkeiten brauchen und was dem Kindeswohl dient", sagt Bargfrede. Und erzählt auch von gesellschaftlicher Verantwortung – und einer jungen Frau, Tochter einer geistig behinderten Mutter, die sie viele Jahre begleitet hat. Die heute, mit 29, sagt: "Mitzubekommen, dass ihr meine Mutter mögt und schätzt, schon das hat mir sehr geholfen."
Quellen u. a.: M. Hodes, Testing the affect of parenting support for people with intellectual disabilities (...), Dissertation, VU Amsterdam, 2017
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