"Affären sind ein Alarmsignal"
Wie wichtig ist uns heute Treue? Und warum gehen wir fremd? Das weiß Beziehungstherapeutin Esther Perel
Die Menschen, die fremdgehen: Wer sind sie, und wenn ja, wie viele? Diese Frage wird Beziehungstherapeutin Esther Perel oft gestellt. Weil Männer öfter mit Affären protzen und Frauen diese lieber verschweigen, schwanken Schätzungen zwischen 25 bis 75 Prozent. Fremdgegangen werde sogar in offenen Beziehungen, sagt Perel, da die trotz aller Lockerheit auch Grenzen hätten. „Sogar wenn wir die Freiheit besitzen, andere sexuelle Partner zu haben, lockt das Verbotene.“
Was Perel aber für die wichtigere Forschungsfrage hält: Warum gehen wir fremd? Diese stand auch im Mittelpunkt ihres TED-Vortrags aus dem Jahr 2013, der inzwischen rund elf Millionen Mal angeklickt wurde. Darin sagt sie: „Früher war die Ehe ein wirtschaftliches Bündnis, heute heiraten wir aus Liebe. Also muss man eine endlose Liste von Bedürfnissen erfüllen: Man muss der beste Liebhaber sein, der beste Freund und Vertraute, der beste Vater oder die beste Mutter. Du wurdest auserwählt, du bist einzigartig. Geht der Partner dennoch fremd, heißt das eigentlich: Du bist doch nicht der oder die Richtige.“ Dabei leben wir in einer Gesellschaft, in der von uns erwartet wird, dass wir unseren Bedürfnissen nachjagen, stets auf der Suche nach etwas Besserem.
"Früher trennten wir uns, weil wir unglücklich waren, heute tun wir das, weil wir noch glücklicher sein wollen." Oft wird angenommen, der Reiz des Neuen und der Wunsch nach mehr Leidenschaft seien die Hauptmotive, um fremdzugehen oder sich sogar zu trennen. Perel ist jedoch der Meinung, dass es fast nie um Sex an sich gehe, sondern meist um eine tiefergehende Sehnsucht. Eine Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und danach, sich besonders zu fühlen. „Untreue sagen fast immer: Ich spüre wieder, dass ich lebe. Oft erzählen sie mir auch vom Verlust eines wichtigen Menschen, der in ihnen existenzielle Fragen aufgeworfen habe: Ist das alles? Mache ich die nächsten 25 Jahre so weiter?“ Eine Affäre mag der Todesstoß für eine Beziehung sein, die eh ausgeblutet war. Aber für Paare, die nicht mehr kommunizieren, kann sie auch ein Alarmsignal sein. Perel empfiehlt, sie als Chance zu sehen und als Anstoß, sich gegenseitig Fragen zu stellen: Was hat dir die Affäre gegeben, was du bei mir nicht finden konntest? Weißt du, was ich in letzter Zeit vermisse?
Ein Großteil der Paare bleibe nach einer Affäre zusammen, sagt Perel. „In unserer westlichen Welt werden die meisten Menschen in ihrem Leben mehrere lange Beziehungen haben.“ Und das können, ihrer Meinung nach, durchaus aufeinanderfolgende Beziehungen mit ein- und demselben Partner sein. Ist einer fremdgegangen, habe man nämlich die Wahl: „Man kann sich auf die Suche nach jemand anderem machen. Oder versuchen, mit dem alten Partner eine neue, eine bessere Beziehung aufzubauen.“ //